Mappa Mundi
Lippen drückte, ihre wimmernden Laute konnte sie nicht zurückhalten.
Detteridge blickte an sich herunter und entdeckte einen blassen Lichtschimmer, wo eigentlich seine Beine hätten sein sollen.
Etwas stimmte nicht. Er begriff es nicht. Sein Geist war wie der Wind. Er kam und ging sporadisch. Sein Körper war so blass und hauchdünn geworden, dass Luft und Licht ihn mühelos durchdrangen. Klammern konnte er sich nur noch an das bestimmte Gefühl, wer er war, aber nicht, was er war, und selbst das war unsicher geworden, denn er sah nun so viel mehr als zuvor, und was er erblickte, veränderte ihn.
»Dervla«, sagte er und versuchte, ganz regungslos zu bleiben. »Alles ist gut. Ich bin’s doch nur.«
Er lächelte und breitete die Arme aus. Er sehnte sich so sehr danach, dass sie ihn drückte und ihm sagte, alles sei in Ordnung. Dabei war er sicher, dass nichts in Ordnung war. Dieses Gefühl wollte einfach nicht verschwinden, und er fürchtete sich. Er konnte sich nicht erinnern, wie er nach Hause gekommen war. Der Wunsch, dort zu sein, und die Anwesenheit dort waren ein und dasselbe. Sie besetzten den gleichen Augenblick.
»Nein«, wisperte sie und drängte sich gegen die Wand. »Heilige Maria Mutter Gottes. Geh weg. Bitte. Geh weg.«
Angesichts ihrer schrecklichen Furcht hätte er am liebsten aufgeschrien.
»Mommy?« Christine stand in ihrer Zimmertür. »Was ist denn los?« Sie klang sehr verängstigt. Sie blickte durch den Korridor auf ihn. »Das ist Daddy«, sagte sie erfreut. Dann aber legte sich gleiche entsetzliche Ungewissheit auf ihr Gesicht, die auch Ian spürte. »Warum ist er nicht wirklich da?«
»Ich bin hier«, wisperte er, hockte sich nieder und versuchte, sein fröhlichstes Gesicht aufzusetzen. »So wirklich, wie ich kann.«
In diesem kurzen Moment sah er die Frau, die Christine sein würde, widerstandsfähiger und intelligenter als er oder seine Frau, einfallsreich, aber immer knapp an Selbstwertgefühl, sodass sie zögerte, Gelegenheiten zu ergreifen und ein Leben lebte, das zwar lang war, aber leer, von Hoffnungen und Ängsten geprägt, die sie zwangen, sich ständig vor der Welt zu verstecken. Ihm wurde übel, mit so viel Mitleid erfüllte ihn die grausame, unvermittelte Vision – Mitleid für sich, für seine Tochter und für die ganze Welt voller Menschen, die nicht sehen konnten, was er sah: das innerste Nichts, aus dem sich alles ergoss, Augenblick für Augenblick erhob und verschwand, während sich davor das All öffnete und dahinter wieder schloss und sie ewig gestrandet auf der Messerschneide der Gegenwart zurückließ. Wie gern hätte er ihr gesagt, dass sie sich nicht grämen müsse, ob sie gut genug sei. Alles war mehr als gut genug, in seinen Augen wie auch nach Ansicht des Universums.
Doch Christine blickte ihre Mutter an, die zitterte und kein Wort hervorbrachte und ihr nicht entgegenkam. Den Teddybär in den weichen Armen, die er niemals wieder spüren würde, fragte seine Tochter ihn kaum hörbar: »Bist du jetzt tot, Daddy?«
Und Ian begriff, dass er in jeder Hinsicht, auf die es ankam, tot war.
White Horse erreichte Judes Wohnung am Abend und schaute sich nach ihm um. Er war zurückgekommen, denn sie sah seine Koffer. Doch er war nicht da.
In jeder Sprache schimpfend, die sie kannte, ging sie in die Küche, öffnete den Kühlschrank und nahm die Flasche Stolichnaya heraus. Sie schenkte sich ein Glas ein und leerte es in einem Zug. Mit gefletschten Zähnen zerbiss sie das kalte Brennen, während sie sich nachschenkte. Auf dem Rückweg von Wo-auch-immer hatte sie im Auto einiges aufgeschnappt und wünschte sich nun, sie hätte weggehört. Was sie gehört hatte, machte ihr das Alleinsein ungeheuer schwer. Auf Jude zu warten wurde zur Folter. Sie fühlte sich, als wäre jeder Nerv in ihr durchbohrt und baumelte an einem eigenen Angelhaken, als hinge ihre Seele zum Trocknen aufgehängt und wäre dünner als ein Papiertaschentuch.
Sie trank das zweite Glas mit zwei Schlucken aus und nahm das dritte mit in das spießige, cremeweiße Wohnzimmer ihres Bruders, zum Sofa, das sie umfing wie eine Schneewehe, und schaltete eine Nachrichtensendung an. Ihre Verbrennungen verlangten schon wieder nach der nächsten Tablette, doch das Medikament vertrug sich nicht mit Alkohol, und den brauchte sie dringender als die Flucht vor den körperlichen Schmerzen. Trotz des Betäubungsmittels, dessen Wirkung langsam nachließ, kam es ihr vor, als schwebte sie so hoch wie ein Drachen im
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