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Mappa Mundi

Mappa Mundi

Titel: Mappa Mundi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Justina Robson
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Guskow sich mit ihrer Krankenakte aus ihren zwei Jahren als Patientin in der geschlossenen Abteilung befasst und Armstrongs Meinung über ihre Sicht der Wirklichkeit angehört hatte, war er sich nicht mehr ganz sicher, auf welches Ziel sie hinarbeitete.
    Was immer sie beabsichtigte, zur Zeit des entscheidenden Ereignisses war Patient X zum einen ein funktionierender Organismus gewesen, zum anderen aber auch eine holografische, fraktale Datenverarbeitungsanlage mit dem festgelegten, ihr von den eingebetteten Spezifikationen der Selfware eingegebenen Ziel, sich ein akkurates und umfassendes Bild der physischen Welt zu machen. Natalie Armstrong hatte, so glaubte Guskow, herausfinden wollen, ob das Leben aus mehr bestand als Physik, Chemie und Biologie. Vielleicht hatte sie Gott finden oder seine Abwesenheit beweisen wollen. Guskow hätte das Ergebnis sehr interessiert, nicht sosehr wegen der Fragestellung an sich, sondern aus persönlichen Gründen. Ohne Gott und sein Wirken hätte Guskow niemals in diesem Moment in diesem Bett gelegen, nachgedacht und gegen die Träume angekämpft, die auf ihn warteten. Von solchen Gedanken wandte er sich nur allzu gern ab.
    Etwas wie Selfware in einen Code zu verwandeln, der sich in weniger als einer Viertelsekunde übertragen ließ und der zu funktionieren schien, ohne sich selbst zu blockieren, war eine Großtat, zu der Guskow sehr gern imstande gewesen wäre. Entweder hatte Armstrong nicht recht begriffen, was sie tat, oder sie war ein Genie. Guskow war das einerlei; er würde sie an seiner Seite haben, und zwar jetzt, bevor sie dem Ministerium oder jemandem wie Mary Delaney in die Hände fiel, die ihr den Kopf mit kruden, repressiven Ideen füllen würden – Wertvorstellungen, welche dem gleichen Schoß entkrochen waren wie bestimmte Auffassungen von Gott, deren Ausmerzung sein Lebensziel war.
    Guskow bezweifelte nicht, dass Natalie Armstrong, sofern man sie ohne weitere Verwicklungen und Unfälle zu ihm in Sicherheit schaffte, den Maßstab und die Wichtigkeit seines Vorhabens in vollem Ausmaß begreifen würde – besser vielleicht als sonst jemand. Eventuell konnte sie sogar den entscheidenden Beitrag zum Erfolg leisten, eine wahrhaft dräuende Aufgabe, nachdem sie die letzten Phasen des Plans in der Abgeschotteten Anlage ausführen mussten. Zu schwer, dachte er oft. Die Falle schloss sich zu fest. Wie sollte er es aus solch einem Winkel zuwege bringen, dem Pentagon Mappa Mundi vor der Nase wegzuschnappen? Müsste er, um seinen Erfolg sicherzustellen, am Ende doch auf nur teilweise fertig gestellte Systeme zurückgreifen, wie das Pentagon sie eingesetzt hatte?
    Sein Pad-Timer piepte und erinnerte ihn, dass es an der Zeit war, aufzuhören.
    Er brachte seinen Körper in eine bequeme Lage und leerte seinen Geist. Die Muskeln entspannten sich, die Gedanken erweichten, sanken aus ihm heraus. Leer und inaktiv, bat er den Schlaf zu beginnen. Wie der Tod kam auch der Schlaf in dem Moment, in dem das Bewusstsein zu existieren aufhörte. Jede Nacht hielt Guskow nach ihm Ausschau, und mühelos schlich der Schlaf sich jedes Mal an ihm vorbei.
    Schlief Patient X noch, oder war er über diese Welt hinaus?
    Er ließ die Idee in Stille entgleiten. Schweigen. Dunkelheit.
     
    Natalie kam in einem grellen Licht zu sich. Sie befand sich in einem Raum mit einem hohen Fenster, lang und schmal wie die Schießscharte eines Burgturms, durch das die Sonne auf ihr Bett schien, in dem sie unter einem Plumeau und einer Decke lag. Das Bettzeug unter ihren Fingerspitzen besaß die Härte des typischen Industrieprodukts und roch nach überhitztem Leinen. Sie selbst stank ranzig, animalisch und war nass von den Resten einer durchschwitzten Nacht. Auf ihrem Rücken spürte sie die Schlaufen eines Krankenhausnachthemds.
    Einen Augenblick lang besaß sie keinerlei Erinnerung an die letzten fünfzehn Jahre.
    Sie war wieder vierzehn, saß in der geschlossenen Abteilung des McKillick-Krankenhauses und erwachte in einen neuen Tag grauer Hölle. Sie reagierte, indem sie ihr Gesicht ins Kissen drückte, um der ungeheuerlichen Behauptung des aufdringlichen Lichts zu entgehen, die Welt sei hell und wunderbar. Die Bettwäsche, ihr Geruch, wie sie sich anfühlte, die erstickende Tiefe des unpersönlich weichen Kissens; das bedeutete Sicherheit in reinster Form, und sie würde hier bleiben, bis Schwester Williams sie hinaus in die feindselige Leere des Zimmers zerrte. Das war eins der Rituale, mit denen jeder lange,

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