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Mappa Mundi

Mappa Mundi

Titel: Mappa Mundi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Justina Robson
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erbärmliche Tag begann.
    Die geschlossene Abteilung des McKillick-Krankenhauses war eine gemischte Station, nach Außen hin isoliert, aber gut finanziert – darum hatte sie hoch qualifiziertes Personal. Es gab tägliche Visiten und einen vernünftigen hygienischen Standard in den Toiletten und Baderäumen. Natalie hatte nie viel darüber nachgedacht, doch nun, mit dieser beißenden Gedächtnisstütze, die alt erschien wie ein Ausblick in die Ferne, erinnerte sie sich plötzlich, wie das Leben auf der Station gewesen war und womit sie es zu tun gehabt hatte.
    Schon am ersten Tag hatte sie den Preis des Wahnsinns kennen gelernt; als die Natur sie in die Toilettenkabine trieb, fand sie dort ein fußlanges Stück Kot auf dem Toilettensitz vor, und zusammengeknülltes braunes Papier übersäte den nassen Boden und klebte an der Wand. Braune Fingerabdrücke sprenkelten den Rollenhalter und setzten sich bis zum Waschbecken fort. Natalie war bestürzt zurückgewichen und hatte erwartet, sich beim Umdrehen in einem Bahnhofswarteraum wiederzufinden, wo unter den Bänken Obdachlose schliefen. Sie beschwerte sich bei der Schwester, und diese suchte ihr eine andere Toilette, in der nur einige Tropfen verspritzt waren, die sie mit Klopapier und Wasser beseitigte. »Ich kümmere mich darum«, versprach sie und ließ Natalie dort sitzen. Die Tür ließ sich nicht absperren, und Natalie hatte sie mit dem ausgestreckten Fuß zuhalten müssen, obwohl sie die Tür mit den Zehen kaum erreichen konnte, damit niemand eindrang.
    Selbstmitleid und Abscheu wallten in ihr auf, bis sie glaubte, ihr würde schlecht. Wie konnte man sie nur so zurücklassen – vor Wildfremden auf dem Klo sitzend, denen sie erlauben musste, sie nach Gutdünken einzuschließen oder herauszulassen? Sie wusste zwar, dass sie die Dinge selbst in die Hand nehmen sollte, dass es nicht normal war, sich in diesem Zustand zu befinden, doch fehlte ihr der Wille, normal zu sein … und noch bevor sie den Gedanken zu Ende geführt hatte, versank ihre Wut in der weichen, grauen Leere, die in ihr wohnte. Ihr Fuß sank auf die Fliesen. Taubheit überfiel sie.
    Natalie zog sich gerade den Schlüpfer hoch, als ein Mann die Tür öffnete, stehen blieb und sie anstarrte. Er wirkte nicht aggressiv, nur irritiert. Sein Gesicht machte deutlich, dass er darauf wartete, nach ihr die Toilette zu benutzen. Während sie noch an ihrer Kleidung nestelnd zum Waschbecken ging, schob er sich an ihr vorbei, zog den Reißverschluss auf und schoss einen Strahl Pipi heraus, der überallhin spritzte, vom glatten Plastiksitz bis zu ihrem stumpfgrauen Rock. Sie blickte auf die Flecke und wurde gewahr, dass sie nicht im Entferntesten zu sagen wusste, woher sie den Rock hatte. Sie eilte in ihr Zimmer, wechselte den Rock gegen eine Trainingshose und legte ihn in den Wäschekorb. Doch sie kannte den Ablauf noch nicht; sie hätte ihn vorher in einen Beutel stopfen sollen, auf dem ihr Name stand. Ob der Rock nun ihr gehört hatte oder nicht, sie sah ihn niemals wieder.
    Wenn ihr solche Expeditionen keine Konzentration abverlangten, fiel sie in der Stille ihres Einzelzimmers rasch in die Katatonie zurück. So jedenfalls muss es ausgesehen haben. Sie lag dann auf dem Bett, starrte an die Decke und atmete. In ihrem Kopf aber überschlugen sich die Gedanken mit irrwitziger Geschwindigkeit. Tatsächlich schien es keinen Unterschied zwischen Natalie und der Geschwindigkeit zu geben: Die Geschwindigkeit war die einzige Empfindung, die sie hatte: stark und mächtig wie ein Fluss, unaufhaltsam wie ein Dammbruch, als wäre tief in ihr etwas zerbrochen und die Außenwelt, in ihrer Gesamtheit, strömte herein; der Niveauunterschied zwischen ihnen war so groß, dass die Flut niemals nachlassen würde.
    In dieser Sintflut blieb kein Raum für eine Identität. Keine Einzeltatsache, keine Erinnerung, kein Bild erhob sich aus dem Hochwasser, solange Natalie nicht gezwungen war, ihre Aufmerksamkeit zu schärfen. Dann zog sich die Gewalt in den Hinterkopf zurück und ließ sie eine Weile treiben wie einen Stock auf der Oberfläche eines Stromes; sie konnte dann mit ihrem Therapeuten sprechen, ihre Mahlzeiten zu sich nehmen und mit neu gewonnener Wachsamkeit auf die Toilette gehen. Währenddessen aber war sie sich bewusst, dass das Wasser die Zeit nutzte, um hinter dem Damm wieder bis an die Deichkrone zu steigen, solange sie sich dem Alltäglichen widmete, und dass sie schon bald wieder der Strömung nachgeben müsste, sonst

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