Mappa Mundi
Baubehörde in der Stadt, der das Wochenende im Büro durcharbeiten musste und ihre Hochzeit mit einem Darlehen finanzieren wollte, das er in den kommenden drei Jahren zurückzuzahlen gedachte. Mack und Shelagh wünschten sich Kinder (eine Familie gründen wollten sie, wie Shelagh es ausdrückte) und planten, im Schoß einer vorgezahlten privaten Krankenversicherung, für die Mack wahrscheinlich schon jetzt eine erbärmliche wöchentliche Prämie auf den Namen Mr und Mrs M. Smith entrichtete, auf den Tod zu warten. Shelagh kam ganz nach Gerry.
Mary musterte ihre Schwester mit unterdrücktem Zorn und Unwillen – und einem Mitleid, das ihr die Sprache verschlug. Das Gleiche empfand sie, wenn sie ihre Mutter sah und ihren Vater, ihr Haus und ihre Nachbarn mit ihren überzogenen Kreditkarten, ihren Schmalspurträumen und dem nagenden Gefühl, in einer Sackgasse zu stehen, als wäre jeder, der dort wohnte, der Verlierer in einem Spiel, dessen Regeln er nie begriffen hatte. Am liebsten hätte Mary sie alle vergessen.
Der Bus hielt mit knirschenden Bremsen, die an das Todesröcheln einer Kröte erinnerten, und Mary und Shelagh stiegen aus und betraten zum ersten Mal den dampfend heißen Asphalt von Centralia, Pennsylvania. Die Fahrt hatte fast einen Tag gedauert. Sie waren müde, und die Glieder schmerzten ihnen. Doch das alles war vergessen, kaum dass sie einen Blick auf die Ortschaft warfen: Centralia war ausgebrannt, im großen Stil und vor langer Zeit, und es brannte noch immer.
Sich der Gefahr bewusst, in der er schwebte, wendete der Busfahrer rasch und ließ sie am Ortsrand zurück, wo ein großes gelbes Schild warnte: »Offizielle Bekanntmachung – Gefahr durch Bodensenkung und giftige Gase. Haftung des Bundesstaates endet hier.« Ein Stück entfernt parkten zwei schwarze Limousinen an dem freien Grundstück, auf dem einst die Sankt-Ignatius-Kirche gestanden hatte, bis sie zu ihrer eigenen Sicherheit abgerissen worden war. Besorgt warteten dort der Rest der Familie, der nach der langen Anreise einige Tage bleiben würde, und der Pfarrer. Mary sah, wie sie auf dem brühheißen Boden von einem Fuß auf den anderen traten. Sie waren nicht mehr als Schatten, in huschenden Rauch gehüllt, während der gnadenlose Wind Schwefeldämpfe und andere Gifte auf eine Führung durch die Stadt mitnahm.
Gebäude gab es gar keine. Mary blickte auf den geborstenen Straßenbelag, dann auf einen schmalen Rasenstreifen, der von Löchern übersät war, aus denen Rauch und Dampf aufstieg. Das Gras war fast überall abgestorben. Auf dem Kirchengrundstück neigten sich die geschwärzten und gebleichten Stämme von Birken in alle Richtungen, und Mary sah, dass die Grabsteine fast ausnahmslos umgestürzt und vom Feuer unter der Erde verschlungen worden waren.
Da wusste sie, dass sie in ihrem Leben tun konnte, was immer sie wollte, ohne sich schuldig zu fühlen. Durch die entzündeten Leichen der lebenden Toten in diesem Ödland war jede Schuld im Voraus beglichen worden.
Shelagh machte einen zögernden Schritt auf die anderen zu, und Mary folgte ihr in den stinkenden Dampf. Sie zog sich den Mantelkragen übers Gesicht, scheinbar, weil sie den Geruch nach faulen Eiern nicht aushielt, tatsächlich aber, um vor den Verwandten zu verbergen, dass sie grimmig von einem Ohr zum anderen grinste.
Nach der sehr kurzen Andacht und der sich anschließenden hastigen und wenig würdevollen Flucht aus der Hölle stellte Mary fest, dass sie die Umgebung immer mehr mochte, obwohl ihre Pläne, hier Ski zu fahren und eine Wildwasserfahrt im Schlauchboot zu unternehmen, sich niemals verwirklichen ließen. Im Büro des Notars in Mount Carmel stellte sie zu ihrer Überraschung fest, dass Gerry ihr außer den Versicherungen und Ausgleichszahlungen der Tankstellenkette etwas Persönliches hinterlassen hatte, etwas, das ihm selbst gehört hatte. Einige Tage, nachdem sie nach Charlottesville zurückgekehrt war, erhielt sie es per Post – eine kleine Nachbildung des Spaceshuttles Columbia aus Bleikristall, der einzige Gegenstand, der von Gerrys einst großen Plänen geblieben war.
Den Shuttle trug sie immer bei sich.
L EGENDE 5
I AN D ETTERIDGE
Ian war ein beiläufig Gläubiger, der ein mehr oder weniger unbeachtetes Dasein fristete. Dreimal in seinem Leben besuchte er die Kirche: zu seiner Taufe, zu seiner Heirat und zum Begräbnis seiner Eltern. Seine kleine Familie, die aus ihm selbst, seiner Frau Dervla und seiner Tochter Christine bestand,
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