Mappa Mundi
gefahren ist … wer ist Ihr gemeinsamer Elternteil?«
»Der Vater«, sagte White Horse und dachte: Das muss sie doch schon wissen, oder hat er so wenig von mir erzählt? Obwohl sie Jude als einen weißen Jungen betrachtete, der sie verraten und verkauft hatte, wusste sie doch, wie melodramatisch dieses Bild war und wie sehr sie ihm damit Unrecht tat; darum war sie von dieser Erkenntnis besonders enttäuscht. Sollte er wirklich imstande gewesen sein, so zu tun, als gäbe es sie gar nicht?
Unbekümmert fuhr Mary fort: »Jude brauchte die Ablenkung dringend, und als er Urlaub nahm, um nach Seattle zu fahren, war ich froh, wirklich froh, obwohl ich deswegen mit dem jüngsten Russen-Fall allein dastand – sie doktern an Babys herum, können Sie sich das vorstellen? Dieser Iwanow hat seine Finger wirklich überall drin!«
»Warum haben Sie ihn noch nicht verhaltet?«, fragte White Horse.
»Er genießt den Schutz der Regierung.« Mary verzog das Gesicht. »Anders kann es nicht sein. Jedes Mal, wenn wir versuchen, ihn festzunageln, verschwindet Beweismaterial, und Menschen werden plötzlich stumm oder sterben oder … na, alles geschieht, um zu gewährleisten, dass er entkommt. Er hat auch schon plastisch-chirurgische Eingriffe hinter sich. Außerdem wechselt er Pässe, Häuser, Autos, einfach alles.«
»Warum?«
»Ich wünschte, ich wüsste es. Es ist höllisch verzwickt.« Mary verdrehte die Augen. »Ich meine, er bringt Wissen mit, das die Regierung benutzen will – er kann Fäden ziehen, die staatliche Stellen offiziell nicht einmal berühren dürften. Und von seiner Sorte gibt es mehr als nur einen. Man lässt ihnen freie Hand, solange sie gelegentlich etwas an Land ziehen, das vom Verteidigungsministerium benötigt oder ersehnt wird. Und wenn wir den Burschen mit unseren Ermittlungen zu nahe kommen, lassen sie uns zurückpfeifen.«
White Horse lächelte und nickte; das wusste sie sehr gut. Trotzdem war sie neugierig. Das schwarze Gerät und ihr Haus gingen ihr nicht aus dem Sinn. Und ihre Überlebenschancen auch nicht. Sie versuchte, nicht allzu interessiert zu wirken, und rieb vorsichtig über eine Brandnarbe. Sie hätte zu gern gewusst, ob Mary das Gespräch mit Absicht in diese Richtung lenkte – für den Fall, dass Jude sie doch umfassend eingeweiht hatte.
»Und wenn Sie trotzdem weiterermitteln würden, was wäre dann?«
Mary lächelte. »Das weiß ich nicht genau. Vielleicht stößt uns dann ein Unfall zu, oder man würde uns zurückbeordern und feuern – so stark belastet, dass niemand uns noch ein Wort glaubt, egal zu welchem Thema. Vielleicht würden wir in Alabama enden und versuchen, Bomben zu basteln, die wir ans Auto des Präsidenten kleben wollen, und schrieben Artikel für den National Enquirer.« Sie blickte auf die Uhr. »Wenn er nicht bald aufkreuzt, muss ich gehen. Zu Hause wartet ein ganzer Berg Arbeit auf mich.«
»Noch Tee?«
»Nur ein Glas Wasser.«
Als White Horse die Tassen abtrug, sagte Mary: »Entschuldigen Sie die Frage, aber was ist mit Ihrem …«, und sie wies mit dem Finger auf ihren eigenen Hals, ihre Ohren und ihre Hände.
»Ein Feuer in meinem Haus«, antwortete White Horse. »Kabelbrand. Ich bin noch gut davongekommen. Nichts Ernstes.«
»Sieht übel aus.«
»Ich hab Tabletten.«
»Wohnen Sie hier, während Ihr Haus repariert wird?«
»Ja.«
Mary folgte ihr in die Küche und lehnte sich an die Anrichte, während White Horse ihre Kaffeetasse nachfüllte. »Wissen Sie was«, sagte sie, »ich war nicht ganz ehrlich zu Ihnen. Jude hat mir davon erzählt.«
Als White Horse sie ansah, machte sie eine alberne Grimasse, hinter der sie ihre Verlegenheit versteckte. Unter der blassen Haut befiel sie eine Röte, die jedoch rasch wieder verschwand. Sie bedachte White Horse mit einem mitfühlenden Blick und nahm das Glas Wasser, das sie ihr reichte. »Es fällt ihm nicht leicht, seine Hilfe bei solch einer Ermittlung anzubieten. Sein Job steht auf dem Spiel. Vielleicht sogar sein Leben, wenn es wirklich so schlimm ist, wie Sie glauben.« Ihre blauen Augen blickten todernst, und um ihren korallenroten Mund vertieften sich feine Fältchen.
White Horse fühlte sich schuldbewusst. »Wenn wir nichts unternehmen, verliert mein Volk sein Land«, sagte sie schließlich.
Mary seufzte. »Ich verstehe. Meine Eltern sind aus ihrem alten Haus verjagt worden, als das Land für einen zahlungsfähigeren Markt neu erschlossen wurde. Dass ihr Vertrag ihnen das Recht gab, auf dem Land zu
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