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Mappa Mundi

Mappa Mundi

Titel: Mappa Mundi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Justina Robson
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setzte.
    »Also, du blöder Scheißer«, sagte er beinahe liebenswürdig und seufzte. »Shelagh möchte dich sehen.«
    Dan begriff, dass dieser Mann sich vor Shelagh fürchtete, sie sogar verabscheute, doch er gab keine Antwort. Er musste kämpfen, um auch nur ein bisschen Luft zu bekommen, und hatte das Gefühl, als könnten seine Rippen jeden Moment bersten. Er hatte verloren. Als er das Dröhnen eines Kleinlasters hörte, der auf sie zuhielt, und dann das scharfe Kreischen seiner Bremsen, wünschte er sich, Natalies System wäre in der Lage gewesen, telepathische Fähigkeiten zu wecken.
    Natalie hatte viel geschlafen. Seit dem Zwischenfall hatte sie wenigstens zwölf Stunden am Tag verschlafen, überlegte sie, viel davon Tischschlaf mit langsamen Wellen, aus dem sie nicht einmal dann hätte erwachen können, wenn über ihr das Haus explodiert wäre. Es lag an ihrem Gehirn; es schloss auf zu den Effekten der Selfware, glättete die Kanten ein wenig, räumte auf, gewöhnte sich an die neuen Verhältnisse. Was immer geschah, bei jedem Aufwachen war sie ein neuer Mensch.
    An dem Tag, an dem sie ihren Vater nach Amerika begleiten sollte, erwachte sie um fünf Uhr früh und fühlte sich alarmiert. In dem alten Haus herrschte Ruhe, und auf der Straße war Stille, doch ihr war, als klänge ihr noch ein greller Aufschrei in den Ohren nach – Füchse oder Katzen? Eine Stimme, meinte sie sich zu erinnern, ein Ruf.
    Sie stand aus dem Bett auf, ging ans Fenster und blickte lauschend hinaus. Ihr Zimmer lag zum Garten. Das war die falsche Richtung.
    Sie schlüpfte aus dem Nachthemd, ertastete Jeans und ein T-Shirt, Socken und Schuhe, zog sich an und schlich sich nach unten. Das Nachtlicht der Diele brannte, und der Sicherheitsposten an der Haustür schnarchte leise in seinem Sessel. Unter der Tür zum Arbeitszimmer ihres Vaters drang helles Licht hindurch, und sie hörte, wie er in unsteten Ausbrüchen wie ein Klopfkäfer auf die alte Tastatur einhämmerte. Auf der letzten Stufe blieb Natalie stehen, um sich die Schuhe zuzubinden, dann öffnete sie leise die Tür und schlich sich aus dem Haus.
    Sie roch das Gras und den Fluss, als der Wind sie nach seiner Reise über die Rennbahn umwehte. Von der eine Meile entfernten Hauptstraße hörte sie gerade eben den Verkehrslärm. Am Gartentor trat ihr eine müde, dunkel gekleidete Gestalt entgegen.
    »Wohin wollen Sie?«
    »Spazieren. Wenn Sie mitkommen, seien Sie bitte ruhig und bleiben wenigstens zwanzig Meter hinter mir«, erklärte sie ihm forsch. Sie hegte keinen Zweifel, dass der Mann ihr gehorchen würde, und so war es auch. Er folgte ihr mit der Begeisterung und der Energie eines angestochenen Luftballons.
    Der ersterbende Nachhall ihres Traumes war sehr schwach. Natalie folgte ihm, ohne infrage zu stellen, woher sie wusste, dass diese Abzweigung besser sei als jene, wenn sie an eine Wegkreuzung kam. Rasch überquerten sie das lange Gras des Knavesmire und näherten sich zwischen den eng beieinander stehenden Terrassen roter Ziegelhäuser der Hauptstraße. Dort bog ein Tankwagen der Brauerei gerade auf den Parkplatz des »Winning Post« ein, und seine Hydraulikbremsen gaben ein lautes Schnaufen von sich. Natalie überquerte ohne zu zögern die Straße, passierte eine Reinigung, einen Bäcker und ein Pad-Geschäft mit heruntergelassenen Stahljalousien; dann folgte sie in raschem Trab dem Radweg am Flussufer. Dort, wo der Pfad zur Uferböschung abbog, erstarb ihre Eingebung so unvermittelt, als wären ihre Batterien plötzlich leer geworden. Sie hörte nur noch die Bäume, das Rascheln eines einsamen Entenpaares und das gelangweilte Schlurfen ihres Aufpassers, das zu ihr aufschloss.
    Natalie sah, dass an dieser Stelle das Gras nass war, und entdeckte zwischen dem Rasenstreifen und der Böschung eine schlammige Schneise mit Handabdrücken und Fußspuren. Außerdem sah sie eine frische Reifenspur. Sonst nichts. Sie schaute zur Brücke hoch, die etwa zweihundert Meter entfernt war, und entdeckte darauf einen geparkten Polizeibus mit abgeblendeten Scheinwerfern.
    Sie fragte sich, was sie hier in den frühen Morgenstunden zu suchen hatte, und blickte über den Fluss zu ihrer alten Wohnung hinüber. Da sie schon in der Nähe war, überlegte sie, dass sie nun auch noch die Brücke überqueren und nachsehen könnte, ob sie Dan zu Hause antraf. Das wäre ihre einzige Chance, teilte ihr die ältere Sektion ihres Geistes mit. Ein neuerer Teil entgegnete, Dan sei schon gar nicht mehr in

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