Mappa Mundi
rang die meiste Zeit mit den Schulden fürs Auto, für das Haus und den Jahresurlaub. Doch allzu schwer zu kämpfen hatten sie nicht, und als Ian vierzig war, hatte er die meisten Sorgen abbezahlt. Ihm blieb nur eine vage Unzufriedenheit mit dem Leben, die er durch die Religion lindern, aber nicht beseitigen könnte. Er brauchte keine Beschwichtigung für seine Seele. Er wollte etwas Dauerhafteres, Echtes. Nachts, während Dervla neben ihm schnarchte, lag er manchmal wach, dachte nach und versuchte zu ergründen, ob es im Leben noch mehr gäbe als das Vorstadtdasein irgendwo jenseits des galaktischen Randes von Halifax, Huddersfield, Batley und Dewsbury, in die ihn seine Tätigkeit als Bauhandwerker regelmäßig führte und in denen er nur Menschen traf, die genauso lebten wie er.
Ian trank ein wenig. Gelegentlich trank er einen über den Durst. Er war auf der Suche nach etwas, das er nur als »grandios« bezeichnen konnte. »Grandios« war ein Tag am Strand seiner Jugend, mit einem Drachen in der Hand durch die schmale Brandung zu rennen und sich die Beine mit eisigem Salzwasser zu bespritzen, während die Drachenschnur an ihm zerrte und ihn hochziehen wollte, zum Himmel empor.
Dervla sah fern. Meistens Seifenopern. Sie lebe in der Glotze, sagte Ian immer. Wenn er von der Arbeit nach Hause kam, klebte sie vor dem Fernseher, machte dabei Tee oder bügelte mit träumerischen Bewegungen, wie ferngesteuert. Er selbst konnte mit den Serien nichts anfangen. Im Grunde waren sie Fortsetzungen dessen, was er tagsüber schon erlebt hatte: Haus und Auto, Einkaufen, mit den Kumpels an den Freitag- und Samstagabenden in die Kneipe, am Sonntag das Rugbyspiel, zwei Wochen Lanzarote, zusehen, wie die Plauze von Jahr zu Jahr dicker wurde, einen Zentimeter um den anderen zulegte, die Bücher führen und ein Stück an den Häusern anbauen oder abreißen. Er versuchte zu begreifen, was das bedeutete, denn irgendeine Bedeutung musste es ja haben.
Christine las gern. Während Dervla die Augen nicht vom Bildschirm nahm, steckte Christine die Nase zwischen die Buchseiten und schob sich die Brille in regelmäßigen, präzisen Bewegungen alle zwei bis drei Minuten mit dem Zeigefinger hoch. Sie erzählte ihm alles, was sie in ihren Büchern las. Feen und Elfen, Kobolde und Hexen, ein Junge, der Zauberer war und auf der Schule Abenteuer erlebte, Ian begriff sie zwar ebenfalls nicht, doch war er der Ansicht, dass sie beide auf ihre Weise versuchten, die vage Leere in sich zu füllen, die Leere, die sie mitgebracht hatten, von woher sie auch kamen, die Leere, die niemals genug bekam.
Als Junge hatte Ian Astronaut werden oder Drachenfliegen wollen – etwas tun, wodurch man dorthin gelangte, wo die Freiheit war. An einem verregneten Mittwochabend, als Dervla ihre Schwester besuchte, sah er eine Dokumentation über die Besteigung des Mount Everest ohne künstlichen Sauerstoff. Ein Reporter fragte den Mann: »Sie sind hinaufgestiegen, um den Tod herauszufordern?«
Dervla hätte es genauso gesehen.
»Nein«, sagte der Bergsteiger, »ich bin hinaufgestiegen, um zu leben.«
Ian wollte derjenige sein, der das sagte. Kaum hatte er es gehört, wusste er, dass dieser Bergsteiger seine Unzufriedenheit mit etwas Echtem, Solidem anfüllte. Ian wollte ein besserer, mutigerer, nützlicherer Mensch sein. Jemand, der sagen kann: »Ich habe gelebt.«
Währenddessen wärmten sich draußen im Regen die Sturmwinde für die Nachtvorstellung auf. Sie peitschten gegen die Fenster und bogen die Zypressen in Ians Garten zu Sicheln aus widerspenstigem Grün. Heute Nacht wird eine Schieferplatte brechen und verrutschen.
Morgen wird Ian die Leiter herausholen und hinaufklettern, um das Dach in Ordnung zu bringen. Durch den Regen sind der Schiefer und seine schleimige Schicht aus Lindensaft so glatt wie eine Schlittschuhbahn.
Ian ist es gewöhnt, auf Dächer zu klettern. Doch morgen, wenn er oben an der Leiter ankommt und die Festigkeit der Regenrinne prüft, bevor er sich mit den Füßen auf die Schieferplatten wagt, wird er in Gedanken bei der Besteigung des Mount Everest sein. Einmal auszurutschen ist gleichbedeutend mit dem Versagen eines Steigeisens im ewigen Eis. Ist er entschlossen genug, unter solch rauen Bedingungen weiterzumachen? Das Kamerateam und der Erzähler, die hinter ihm stehen, vertrauen den ehrfürchtigen Zuschauern in einer Million Häusern ihren kleingläubigen Zweifel an. Ian lässt nicht nach in seiner Pflicht.
Offenen Mundes bewundern die
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