Mappa Mundi
Zuschauer seinen Wagemut.
Als Ian die Schieferplatte an Ort und Stelle setzt und nach einem neuen Nagel greift, mit dem er sie befestigen will, schlägt er in Wirklichkeit an der steilen Nordwand ein widerspenstiges Zelt auf. Mallorys Gespenst erhebt sich aus seinem felsigen Grabmal und klopft Ian auf die Schulter, weil er angesichts des schweren Sturms solchen Mut zeigt.
Doch wie es so ist, wird Ian den Fuß auf einen bemoosten Klumpen setzen, der zwischen zwei Schieferplatten festsitzt, sich niederbeugen und spüren, wie sich unter ihm eine riesige, tiefe Gletscherspalte öffnet.
Und während er fällt, wird er hinaufblicken und denken: Wenn ich doch nur …
L EGENDE 6
D AN C ONNOR
Als er fünf war, schenkte ihm seine Mutter eine Mütze mit einer Wollquaste daran.
Wenn sein Herz klopfte, bewegte sich die Quaste.
Aus dem Augenwinkel sah er ihren Schatten.
Wackel, wackel.
In den Ohren, die von der Mütze bedeckt wurden, hörte er sehr leise ein Geräusch. Ba-duhm. Ba-duhm.
Ba-duhm. Wackel.
Er lachte. Er konnte sehen, dass sein Herz schlägt.
Den ganzen Tag trug er die Mütze und behielt diese Macht.
Nachts lag die Mütze im Schrank in der Diele.
Nachts sah er den Schatten der Quaste nicht.
Er hörte nicht sein Herz.
Er fragte sich, ob man nachts tot war und nur am Tag lebte.
Als er eine Vampirgeschichte erzählt bekam, wusste er, dass sie das Gegenteil von ihm waren.
Sie waren Un-Tote. Also war er ein Toter.
Das Küchenmesser machte unter seiner Haut ein Geräusch wie Fingernägel auf einer Schultafel.
Er hörte es nicht mit den Ohren, sondern mit dem Verstand.
Das Blut, das herauskam, machte auch ein Geräusch – einen Laut wie das Meer.
Tief in sich konnte er sein Herz hören. Ba-duhm.
Das erleichterte ihn sehr.
Sie nähten ihn zu, bis alles ruhig war.
Die Stille des erzwungenen Schweigens schaukelte sich auf wie eine Welle in der Ferne.
Am Ende lernte er, sich selbst zum Schweigen zu bringen, und versteckte sich wie seine Mütze im Schrank.
Ha ha. Das war lustig.
Dan war lustig.
Er suchte nach Liebe.
Er fand sie nicht.
Er suchte nach Liebe.
Er fand sie nicht.
Er suchte …
Zum Teufel mit der Scheiße.
Einen Tag, ein Jahr später sah Dan auf der Straße einen Vampir.
Er war alt und hässlich vor Alter und Vernachlässigung, und schön, wie er in seiner frischen Hülle aus Nachtreif glänzte. Unter einer Brücke hatte er sich zusammengeringelt und versucht, wie die Mäuse in einer Zoohandlung ein Nest zu bauen, aus Zeitungspapier und Pappkartons. Er trug eine Mütze, eine hübsche Mütze, die ein netter Mensch ihm geschenkt haben musste. Sie hatte fünf lange goldene Troddeln aus Messing, wie die Heiligen Drei Könige sie in einem Krippenspiel tragen, und sah ein bisschen lächerlich aus.
Die Troddeln bewegten sich im Wind über die kristallisierten, rattenfarbenen Wangen des Mannes. Dan hörte, wie das untote Herz des Vampirs im Wind ein Geräusch machte wie Autos, die auf einer nassen Straße vorübersausen. Es seufzte unter der Last von Ungesagtem und Unvollbrachtem und schämte sich vor sich selbst.
Er beschloss, etwas zu tun, zu helfen. Die Berufsberatung bot Kurse an, mit denen sie den Unvorsichtigen auf eine neue Laufbahn führen wollten. Dan entschied sich für die des Krankenpflegers in der Psychiatrie. Dieser Beruf bedurfte einer langen Ausbildungszeit, darunter den Besuch des College, und so musste er von zu Hause ausziehen.
Das Universum vergilt gute Taten. Das sagte seine Mutter immer. Sein Vater, der sein Leben damit verbrachte, in einer Autofabrik die Roboter am Fließband zu überwachen, starb mit zweiundfünfzig an einem Herzschlag im Pub, während er an einem Steakwettessen teilnahm, bei dem man ein Tablett rohes Fleisch, so groß wie die Auslage einer Fleischerei, gewinnen und mit nach Hause nehmen konnte. Seine letzten Worte an die Nachwelt lauteten: »Noch ’ne Wurst!«
Dan, der an einen gebrochenen Arm, den Schrank und mehr Hiebe dachte, als er zählen konnte, musste seiner Mutter beipflichten.
W INDROSE
White Horse erwachte mitten in der Nacht und erstickte beinahe am Rauch. Sie schlug die Augen auf, und der heiße Schmerz war so durchdringend, dass ihr die Tränen die Wangen hinabrannen. Beinahe empfand sie Erleichterung. Seit sie in der Stadt das Auto aufgebrochen hatte, wartete sie darauf, dass ihr etwas Schlimmes zustieß. Nun war es endlich so weit, und sie konnte sich ihm stellen.
Sie tappte in ihrem
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