Mappa Mundi
erwiderte Natalie und hielt seinem Blick stand. »Doch bei näherer Betrachtung wirkt es ganz wie Pragmatismus.«
Er lächelte wölfisch. »Tragen Taten die Last von Moral und Absicht mit sich in die wirkliche Welt?«
Sie verließen die zweite Aufzugkabine und gelangten in einen Korridor, ganz wie die Grundrisse es erwarten ließen. Wie der Gang, der zu Judes Wohnung führte, war er rein funktional. Noch immer hing schwach der Geruch nach Teppichkleber und Farbe in der Luft.
Natalie erwiderte Guskows Blick und antwortete: »Wo ist denn die wirkliche Welt, Michail? Sagen Sie es mir, und ich beantworte Ihnen die Frage.«
Guskow erstarrte, und sein Gesicht wurde düster; in seinen Augen funkelte eine Mischung aus Stolz und dem Begreifen, einer Macht gegenüberzustehen, mit der es aufzunehmen sehr gefährlich sein würde. Doch Natalie war nicht wütend.
»Nur meine engsten Freunde nennen mich so«, sagte er.
»Und so eng haben Sie mich nicht herangebeten. Und selbst wer Sie so nennt, steht Ihnen nicht so nahe – nicht, wer noch lebt«, sagte sie und lächelte; in diesem Augenblick, in dem sie sich ihrer gewahr wurde, genoss sie ihre Macht. »Jawohl, ich weiß Bescheid.«
Jude kam um zehn nach zehn ins Büro. Er war zu Hause gewesen, hatte sich frisch gemacht, die Erdnussbutter in dicke Plastiktüten gepackt, in Kisten verstaut und zu einem U-Stor-It gefahren, wo er sie einlagerte; die Schlüssel zur Kammer befestigte er mit Klebeband unter dem Beifahrersitz seines Pkw. Er behandelte seinen Rücken mit einem Desinfektionsmittel, zog sich um und warf alle Kleidung, die er am Vortag getragen hatte, in einen Müllcontainer zwei Häuserblocks vom U-Stor-It entfernt. Er fühlte sich erschöpft und wund, und in seiner Brust pochte ein dumpfer Schmerz, der beharrlich anhielt, egal mit welchen Atemtechniken er ihn zu lindern versuchte. Am Ende kaufte er sich eine Dose Gatorade und eine mit SlimFast, die er auf den Stufen des Gebäudes sitzend austrank, bevor er aufstand und hineinging.
Er blickte auf die Armbanduhr, dann aus dem Fenster und über die Stadt nach Süden. Er fragte sich, wie es Natalie ging; dann zwang er sich, Platz zu nehmen und nachzudenken. Nach ungefähr einer Minute erschien Perez persönlich in der Tür.
»Hola, Jude«, sagte sie in ihrer geistesabwesenden Art. »¿Co-mo estas?«
»Vale«, antwortete er. Sie sprachen in Ostküstenspanisch weiter.
»Wirklich?« Sie schloss die Tür hinter sich, kam an seinen Schreibtisch und berührte ihn am Ellbogen. »Ihre Schwester?«
»Ja, sie ist es.« Er blickte auf den offenen Aktenkoffer und seinen Inhalt. Der Aktendeckel. Da lag sie vor ihm. Er konnte Perez alles anvertrauen und sich die Sache aus den Händen nehmen lassen. Die Versuchung war so stark, dass er schon Luft holte, um zu beginnen – dann ließ er sie als tiefen Seufzer entweichen.
»Es hängt mit Ihrer Abwesenheit zusammen, mit Ihrer Fahrt zu Ihrer Mutter«, sagte sie, ohne zu fragen. »Das dachte ich mir. Aber wenn es mit der Abteilung zu tun hat, können Sie mit mir darüber reden.« Ihr Gesicht mit den tiefen Sorgenfalten und den weißsträhnigen Zöpfen zeigte einen mitfühlenden Ausdruck. »Ich helfe Ihnen.« Sie drückte seinen Arm und ließ ihn los.
»Danke.« Er hob den Aktendeckel heraus, stellte die Taschen mit den elektronischen Eingeweiden der Scanner daneben und legte das Pad dazu, bevor er den Blick zu ihr hob. »Aber ich glaube, das wäre für uns beide nicht gut. Ich habe nicht genug Beweise für eine Untersuchung, nur eine Menge unzusammenhängender Hinweise. Genau das hatten wir über den Russen schon immer, und ich erwarte nicht, sie verknüpfen zu können, ohne in der Regierung jemandem auf die Füße zu treten. Es ist schwer zu sagen, ob man die Abteilung wirklich mit hineinziehen sollte.«
»Wenn Sie es ablehnen, kann ich Ihnen nicht noch mehr Zeit und Geld bewilligen«, sagte sie ohne Umschweife. »Entweder zeigen Mary und Sie mir etwas, womit ich was anfangen kann, oder Sie suchen sich einen anderen Fall. Das ist mein Ernst, Jude. Verschwenden Sie nicht Ihr Leben und Ihr Talent damit, diesen einen Mann und seine Probleme zu verfolgen.«
»Aber …«
»Kein Aber mehr. Ich sage es Ihnen im Guten. Ich möchte Ihnen helfen. Sie können Urlaub nehmen. Sie können sogar ein Studienjahr beantragen. Bitten Sie mich um alles, was Sie brauchen. Aber schnüffeln Sie keinen Fährten nach, wenn Sie nicht beabsichtigen, das Gesetz in vollem Umfang zur Anwendung zu
Weitere Kostenlose Bücher