Mappa Mundi
wie eine Löwenmähne. Natalie war überzeugt, dass jede Strähne um der Wirkung willen mit großem Bedacht angeordnet war, so wie jedes Kleidungsstück, jedes Nicken, jedes Blinzeln und Lächeln. Er war ein Experte.
»Ausgezeichnet. Dann haben wir viel zu diskutieren und voneinander zu lernen. Kommen Sie?« Er bat sie, als bliebe ihr eine Wahl. Das gefiel ihr.
»Ja.«
»Dann wollen wir mal.« Er bedeutete ihr vorauszugehen, und sie folgte seinem Adjutanten in den Korridor.
Während der Formalitäten ihrer Entlassung und der vorschriftsmäßigen Einweisung in ein Labor der Bio-Sicherheitsstufe 4 übersah sie völlig, was vorging, und achtete stattdessen genau auf die Personen ringsum. Es konnte kein Zweifel bestehen. Seit dem letzten Selfware-Lauf war etwas geschehen, das über eine »bloße« Steigerung des Gewöhnlichen hinausging.
Zum Beispiel der Kommandeur, General Bragg. Hinter seinem professionellen Gebaren und dem profunden Wissen über Luftaustauscher, Notfluchtprozeduren und Dekontaminationsduschen, das er an sie weitergab, war er wegen Natalies Anwesenheit zutiefst verstört. Er wusste, dass sie auf eine gewisse Art anders war, und fühlte sich zugleich fasziniert und abgestoßen, zum Teil wegen seiner religiösen Überzeugungen – ein allgemein christlicher Glaube, ohne dass er einer bestimmten Kirche anhing –, zum Teil, weil er über Mappa Mundi Bescheid wusste. Nahm man seine Überzeugungen beiseite, war er von der Idee, dass irgendein Feind in sein Gehirn eindringen konnte, ungefähr genauso angetan wie von der Vorstellung, der Feind könnte das Land überrennen. Eigentlich sogar noch weniger.
Natalie verstand ihn durchaus, doch sie wusste, dass Braggs Abscheu über persönliche Gefühle hinausging. Während er sprach, traten ihm schlaglichtartig immer wieder Erinnerungen an eine Frau vor Augen, die ebenfalls hier gewesen war und um die man sich gekümmert hatte. Gleichzeitig war ihm der Druck gegenwärtig, den seine Vorgesetzten auf ihn ausübten, und dadurch wurden seine Ängste sehr kompliziert. Während er mit konstanter Geschwindigkeit die Dias seiner Präsentation wechselte und Natalie mit den Grundrissen, Zugangswegen, Wartungstunneln und allem anderen vertraut machte, war sie sich bewusst, dass er ständig darüber nachdachte, wie die in der Abgeschotteten Anlage Eingeschlossenen die Kontrolle an sich bringen könnten und welche Gegenmaßnahmen ihm wiederum zur Verfügung standen. Er wunderte sich, wie leicht sie alle zu töten wären, und er fragte sich, ob er das tun sollte; augenblicklich drängte er diese Gedanken mit weniger furchteinflößenden Überlegungen beiseite: Würden seine Mitverschwörer, die wie er die Benutzung oder Ausbreitung von Mappa Mundi stoppen wollten, vielleicht doch versuchen, sich ein Stück vom Kuchen abzuschneiden? Und welche Auswirkungen hätte das?
Ein kalter Schauder überlief sie, während sie gehorsam zuhörte, und sie zitterte. Guskow blickte sie von seinem Platz aus an und fragte sich, ob die Selfware ihr Schmerzen bereite. Sie musste abwarten, bis er sich erkundigte: »Alles in Ordnung mit Ihnen?«
Und erst dann gestattete sie sich zu antworten: »Mir geht es gut. Ich friere nur.«
»Holen Sie Doktor Armstrong etwas Warmes«, befahl Guskow einem der Gefreiten mit einer gebieterischen Handbewegung. Der Mann blickte seinen General an, dann ging er gehorsam. Zu Natalies Erstaunen kehrte er mit einem Kleidungsstück aus ihrem Besitz zurück; ihr Gepäck war offenbar planmäßig eingetroffen. Sie zog die Jacke aus, ignorierte die Blicke auf die Löcher in ihrer Bluse und streifte den dünnen Pulli über. Den Reißverschluss zog sie bis zum Kinn zu. Ein Anflug von Normalität mitten im Wahnsinn.
Natalie fragte sich, ob Guskow wusste, dass innerhalb der Streitkräfte und der Politik eine verzweigte Organisation von Gegnern Mappa Mundis operierte; vermutlich ahnte er es. Dergleichen musste fast zwangsläufig entstehen, und was spielte es für eine Rolle, wenn Bragg darin verstrickt war? Innerhalb dieses Hochsicherheitsgefängnisses, das nicht einmal Mikroben betreten oder verlassen konnten, war das wissenschaftliche Team ein ungedecktes, ruhendes Ziel. Und wie praktisch, dass die Leute noch nichts von Bobby X wussten. Dennoch nagten Zweifel in ihr. Seit dem Ereignis im Gefangenenbus hatte sie Ian trotz seiner Absichtsbekundungen nicht mehr gesehen. Über ihn würde Guskow sie als Erstes ausfragen, und er war das Letzte, was sie vollständig erklären
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