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Mappa Mundi

Mappa Mundi

Titel: Mappa Mundi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Justina Robson
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Gläser und Sandwichpapier war. Sehr langsam trank er sein Bier. Ganz nach seinem Wunsch dehnte der Alkohol in seinem ansonsten leeren Magen die Zeit und bildete Löcher, die ihn lockten, sich in sie hineinzustürzen.
    Er starrte auf den Fluss, der so stark angeschwollen war, dass der Spiegel fast auf gleicher Höhe mit Judes Füßen stand. Braun und dick, war das Wasser voller unberechenbarer Strömungen – langsam an der Oberfläche, reißend in größeren Tiefen. Es sah fast so aus, als könnte man darauf gehen. In diese Klinik zu gelangen war genauso schwierig wie auf dem Wasser zu wandeln.
    Neben der Disk mit den gestohlenen Dateien, die er für Dr. Armstrong mitgebracht hatte, steckte auch das Foto aus dem Rucksack seiner Schwester in seiner Tasche. Er nahm es heraus und blickte sie erneut an: sein Mandala. Komisch, dass Gegenstände eine Bedeutung transportieren konnten wie ein Frachter seine Ladung – ein Fetzen Papier, so schwer wie ein Geldschrank voller Blei. Dieses Foto beförderte ein solches Gewicht und erinnerte Jude unablässig daran, womit er es rechtfertigte, hierher gekommen zu sein und nicht nur seine Partnerin und seine Chefin belogen zu haben, sondern auch seine Mutter überredet zu haben, ihm ein Alibi zu verschaffen, und sich falsche Papiere und eine Scheinidentität besorgt zu haben, die er im Notfall benutzen konnte. In dem Fall, dass man nicht leicht an Dr. Armstrong herankam. Falls er bis an den Punkt gedrängt wurde, an dem er jetzt war – an dem er jetzt festsaß. Und bei Gott, er wollte nichts weniger als verdeckt vorgehen, denn dabei konnte man zu leicht erwischt werden. Doch schon bald, in ungefähr einer Stunde, blieb ihm keine andere Wahl.
    Das Foto zeigte White Horses holzverkleidetes, völlig niedergebranntes Haus. Wie viele Sommerferien hatte er dort verbracht und war mit ihr und ihrer Mutter gewandert, während seine Freunde in Sommercamps oder auf Privatvillen in Europa geschickt wurden. Seine Mutter hingegen musste in einer Seattier Steuerberatung einer geregelten Tätigkeit nachgehen, damit er die Schule besuchen konnte. Deer Ridge Nr. 32 war für ihn ein zweites Zuhause gewesen. Er hatte nie begriffen, wie billig und zerbrechlich es war, bis er das Bild der Zerstörung erblickte.
    Wo das Wohnzimmer gewesen war, ragten ein paar verkohlte Planken aus der Asche auf; eine daumenlose Hand mit vier Fingern, erhoben zu einer Hilfe suchenden Geste. Auf der linken Seite ließ sich gerade noch die Waschmaschine erkennen; die Tür war von öligem Rauch verschmiert, das Gehäuse angeschmolzen. Hier und dort zeigten sich Überreste von anderen Gegenständen: eine Ecke des Klavierdeckels, der komische, selbst gemachte Metallkasten, in dem der Fernseher und das Radio gestanden hatten, die Sprungfedern des furchtbaren Gästebetts, auf dem sein Rücken sich immer angefühlt hatte, als hätte er zehn Runden im Boxring hinter sich; sie bewahrten ihre Form wie das Haar eines Zeichentrickriesen. Wo Tisch und Stühle gewesen waren, standen Rauchfäden, die sich wie Schlangen ringelten.
    Nun, da das Haus nicht mehr da und die Äste der Föhre auf dem Nachbargrundstück versengt waren, hatte man einen freien Blick auf die Berge. Über ihren Gipfeln strahlte blau der Himmel, und wie Zigarettenqualm hing ein Wolkenstreifen vor den Bergspitzen und verschleierte sie. Das Sonnenlicht strahlte wie ein schwacher Blitz aus dem Tal, wo der Drahtzaun der Reservatsgrenze längs des schmalen Fahrwegs bis an den Highway reichte.
    Der Schauplatz des Fotos lag gut sechstausend Meilen entfernt, doch Jude brauchte es nur zu berühren, und schon roch er die Asche im Wind und spürte, wie die Hände seiner Schwester an der Kamera gezittert hatten, sodass der Vordergrund nur als grün-brauner Schmier zu erkennen war. Vor fünf Jahren hatte er gedacht, er würde das Haus niemals wiedersehen.
    Als Jude das Marine Corps verließ und der neu gegründeten Special-Sciences-Sonderabteilung des FBI beitrat, bekam er seinen letzten Streit mit seiner Halbschwester. Mehr als jede andere Regierungsbehörde symbolisierte für White Horse das FBI alles, was sie am Staat hasste, und das zu Recht. Ihr gemeinsamer Vater war in den Siebzigerjahren in einem der Feuergefechte während der Besetzung von Pine Ridge gestorben, und zwar an einer Regierungskugel. Leonard Peltier landete wegen der beiden getöteten Beamten in Leavenworth; schließlich musste jemand bestraft werden. White Horse war erst ein Jahr alt, als es zu diesem

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