Mappa Mundi
verschwand in die Dunkelheit.
Jude Westhorpe stand auf dem langen geraden Abschnitt der Haxby Road, wo alte Lindenbäume den Eisengitterzaun der York Clinic for Psychiatric and Psychologic Research mit seinen zugespitzten Stäben überwucherten und zumindest ein wenig Sichtschutz boten. Er blieb dort einige Minuten stehen und beobachtete. Die Jacke hatte er sich über die Schulter gehängt, und er zog ein unbeteiligtes Gesicht, als sei er nur ein neugieriger Tourist. Die Bäume bildeten eine lange Reihe, die eine weite, zu Bögen und Tälern geformte Grasfläche eingrenzte. Wie eine schützende Hand umschloss sie die alten Ziegelbauten. Auf diesem Gelände war schnelles Laufen oder gar Rennen unmöglich, und Rasenmähen bedeutete eine besondere Herausforderung. Auf der anderen Seite befanden sich ein Parkplatz und ein Labyrinth aus Dornenbüschen, das wiederum keine offenkundigen Fluchtwege zeigte.
Jude begann langsam die Straße entlangzugehen. Als er sich dem Tor näherte, sah er einen uniformierten Wachmann und Portier, der über ein Reversmikrofon mit seinen Kollegen in Verbindung stand, die an den Schlagbäumen im Zaun postiert waren. Jude ging in die Hocke, als müsste er sich den Schuh zubinden, griff dabei durch die Gitterstäbe und holte das kleine Überwachungsgerät heraus, das er am Vortag dort deponiert hatte. Er hatte jedoch das Gefühl, dass der Hightechspionage-Versuch sich als vergebens erweisen würde. Sowohl die Antennen und Satellitenschüsseln auf dem Flachdach des Neubaublocks als auch die verdächtig hohe Zahl von Personen, die sich an den Eingängen herumtrieben, verrieten ihm, dass es keinen einfachen Weg in die Klinik gab. Und ihn zurückrufen würde Armstrong nicht – nicht nach der Annäherungstaktik, die er verfolgt hatte.
Sobald er von der Klinik aus nicht mehr zu sehen war, setzte er sich auf eine Bank, deren Holz grau vom Alter und stark abgeschabt war. An der Lehne war eine Bronzeplakette mit der Aufschrift: »Mrs Philip Sillitoe, MP.« Auf seinem Pad sah er sich Armstrongs Bild erneut an – obwohl es mittlerweile fast in sein Gehirn eingebrannt war. Wohin er auch ging, hielt er nach ihr Ausschau: eine kleine Frau Anfang dreißig, schlank, mit einer purpurroten Kurzhaarfrisur und einem Gesicht, das durch spitze Wangenknochen und einen kräftigen, langen Mund, den sie meist mit Schockfarben bemalte, zugleich elfenhaft und kühn erschien. Ihr Mund faszinierte ihn. Er sah aus, als würde er beim Öffnen mehr als nur Zähne und Zunge offenbaren. Er sah aus, als lebte etwas Böses und Erotisches, Scharfes und Tödliches darin und könnte jeden Augenblick hervorspringen.
Dem Überwachungsgerät war es nicht gelungen, sie auch nur einmal zu erfassen. Jude seufzte verärgert und zwang sich, den Weg zum Ortszentrum einzuschlagen. Die Beschatter, die er gesehen hatte, waren entweder Agenten des Ministeriums oder Polizisten in Zivil, und ihm blieben noch höchstens zwei Tage, bevor man in den Staaten merkte, dass er überhaupt nicht seine Mutter in Seattle besuchte. Er musste etwas Drastischeres versuchen.
Die Überlegung, worin genau dieser Versuch bestehen sollte, verlängerte seinen Spaziergang, bis er das Zentrum der unglaublich kleinen Stadt schon fast durchquert hatte und sich der Brücke näherte, die den Fluss überspannte. Nicht willens, weiterzugehen, schlug er den Weg am Ufer ein und ging auf ein Bier in den kleinen Pub, der King’s Arms hieß und den vielen Studenten und schmerbäuchigen Männern zufolge, die dort herumlungerten, zu den Sehenswürdigkeiten gehörte, die er besuchen sollte.
Der Wirt, ein liebenswürdiger, übergewichtiger und ganz und gar unscheinbarer Mann in einem neuen und trotzdem schon verschlissenen Hemd, dessen Material über den Taschen Videobilder abspielte, brachte ihm ein Glas Theakston’s, ein dunkles Bier, das schwach nach Essig und alten, feuchten Kellern roch. Jude betrachtete die Fenster auf der Brust des Mannes. Die Sonne ging hinter den Wolken nieder, und ein Schwarm Möwen mit schwarzen Flügeln zog vorbei. Er fragte sich, was die Bilder ihm sagen sollten, und überlegte kurz, was er auf seine Taschen gespielt hätte, wäre sein Geschmack so schlecht gewesen. Vermutlich ein Bild eines Gewebes, des gleichen Gewebes, aus dem das Hemd bestand. Ironisch, aber nicht sonderlich originell.
Jude seufzte aus Ärger über seine eigene Berechenbarkeit, nahm das Glas Bier mit nach draußen und setzte sich an einen Klapptisch, der voller alter
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