Mappa Mundi
ihm nicht besonders gut schmeckte, »ist reine Theorie, sogar Metaphysik. Für das Individuum sind die Folgen vielleicht wichtig, doch abgesehen von einer Art Selbstverbesserung oder eigenständigen Weiterentwicklung des Einzelnen gibt es keine offensichtliche unmittelbare Anwendung dafür, und darum sind unsere Geldgeber im Augenblick nicht daran interessiert.«
»Selfware ist keinen Deut theoretischer als das Mappa-Mundi-Projekt!«, erwiderte Natalie. »Beide basieren auf der gleichen Methode. Selfware geht von den gleichen Voraussetzungen aus. Alle meine Beiträge dazu – und wie ich anmerken darf, verläuft das Projekt bislang sehr erfolgreich – konnte ich nur durch meine Arbeit an Selfware leisten. Das müssen Sie doch sehen. Meine Arbeit bildet eine Erweiterung von Mappa Mundi. Selfware ist in keinerlei Hinsicht anders.«
»Ja. Sie haben ausgezeichnete Arbeit geleistet. Hier drin«, er wies auf die Akten, die auf dem Schreibtisch lagen, »werden Sie von Ihren Vorgesetzten immer wieder lobend erwähnt. Ich begreife durchaus, dass Sie unschätzbare Pionierarbeit geleistet haben, wo die beiden Gebiete sich überschneiden.« Er lächelte sie in aufrichtiger Bewunderung an, und Natalie fragte sich: Warum? Warum gibt er mir einen Termin und geht mir um den Bart, wenn er doch nicht nachgibt? Was in Ordnung ist – es ist eben sein Job, zu Leuten wie mir Nein zu sagen, und ich kann nichts dagegen tun.
Sie versuchte, ihre letzte, verzweifelte Karte auszuspielen. »Im Moment muss die Klinik Patienten abweisen, denen ich durch meine Arbeit womöglich helfen könnte. Depressive Zustände kosten unser Land jedes Jahr Millionen von Arbeitsstunden und zerstören das Leben zahlloser Menschen. Das könnte sich ändern. Sogar beim Militär leiden die Leute unter Depressionen …« Doch das Spiel war verloren, und sie gab es auf; der Ausdruck in Glovers Augen hatte sich kein bisschen verändert. Er war auf keine Konfrontation aus, sondern gelassen und voller Anerkennung.
»Keine Lizenz also?«, fragte Natalie.
»Es tut mir Leid.« Er schob ihre Papiere zusammen und legte sie in seinen Aktenkoffer. Die »Streng-geheim«-Stempel auf den Hüllen sahen für Natalie aus, als stammten sie aus einem Detektivkasten für Kinder.
»Selbstverständlich können Sie nach wie vor praktizieren und bei den Arbeiten helfen, die Ihr Herr Vater leitet. Das Mappa-Projekt als Ganzes läuft weiter. Und der Hauptteil Ihrer Arbeit, auch an Selfware, ist ja im Grunde bei unseren Tests gleich mit überprüft worden, nicht wahr?«
»Wann?«
Er breitete die Finger auf dem geschlossenen Kofferdeckel aus und versuchte, nicht auf die Wanduhr zu blicken. »Das kann ich nicht sagen. Sobald Mappaware zur gewerblichen Nutzung endgültig lizenziert ist, in fünf oder sechs Jahren, wird es meiner Ansicht nach gewiss nicht mehr lange dauern. Ich persönlich«, er entspannte sich und ließ die Schultern nach vorn sinken, »finde ich Ihre Arbeit faszinierend. Erweiterte Bewusstseinszustände, Hyper-Wahrnehmung, geistige Evolution, Prüfung der Existenz der Seele: echtes Superman-Material. Wenn es nach mir ginge …«
»Ja«, sagte Natalie trotz des Klumpens in ihrer Kehle. »Danke.«
»Also, dann.«
Und das war es wieder für ein Jahr. Die Besprechung mit dem Vertreter des Ministeriums.
Hinter ihr fiel die Tür ins Schloss, und Natalie stand einen Augenblick im Korridor des Verwaltungsflügels und fragte sich, wie viele Besprechungen es noch dauern und wann die Chinesen oder Amerikaner oder irgendein Hinterhofgenie vor ihr publizieren und das Patent anmelden würde. Davon abgesehen musste sie auch noch ihrem Vater gegenübertreten, und würde er nicht wieder vor Mitgefühl überschäumen? Wahrscheinlich würde er herablassend schnauben, und das wäre dann sein Urteil über ihre Karriere: auf Untersuchungen verschwendet, die eher zu Gurus und anderen Scharlatanen passten. Sie machte sich auf zu der Sektion der Klinik, in die sie gehörte.
Am Getränkeautomaten in der Forschungskantine drückte sie auf die Taste für eine Coladose und bekam Limonade. Während sie die Dose öffnete und den ekligen, übersüßten Schaum schlürfte, sagte sie sich, nicht so ichbezogen zu sein. Was spielte es für eine Rolle, wer wem zuerst half, solange jemand gerettet wurde? In ihrer Tasche meldete sich der Pager; er vibrierte mit jener plötzlichen Dringlichkeit, bei der Natalie sich immer ein kleines Tier vorstellte, verkabelt bis an die Augäpfel und im Koffeinrausch.
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