Mappa Mundi
schon einmal gesehen hätte, würde sie sich an ihn erinnert haben, so viel stand fest. Er überragte sie – aber tat das nicht jeder? –, und unter dem Overall wirkte er ziemlich athletisch. Doch es waren seine Augen, die sie in den Bann schlugen. In diesen Augen lag ein Funkeln, das ihrer Meinung nach nur echtes Interesse bedeuten konnte, auch wenn es wahrscheinlich eher Oberschwester Charltons Figur galt als ihr. Das verwirrte Natalie.
»Drei Monate schon«, sagte er. »Es dauert eine Weile, bis man die Prüfungen hat.«
Der Computer von PathSys sandte eine Bestätigung zurück; damit musste Natalie sich zufrieden geben.
»Wo ist Dan? Haben Sie ihn angepiepst?«, fragte sie Charlton.
»Er war in der Stadt und ist auf dem Rückweg. Warum öffnen Sie nicht die Systeme und lassen ihn übernehmen, sobald er wiederkommt? Ich hätte Sie nicht gefragt«, sie lächelte ironisch, »aber Mister Hilbert sagt, Sie hätten einen gemeinsamen Freund.«
»Ach?« Das erschien ihr sehr unwahrscheinlich.
»Charles Dyer, in Cambridge«, warf Hilbert rasch ein.
Natalie nickte. »Ach ja.« Sie wies in den Korridor, der ins Herz der Klinik führte, und sie gingen zur Tür des Therapiezentrums. Hilbert bewegte sich voll Selbstvertrauen und trug das Gewicht seines Werkzeugkoffers ohne Mühe, obwohl sie sehen konnte, dass er schwer war. Charles Dyer war Natalies Doktorvater gewesen. Hatte Hilbert vielleicht in der gleichen Abteilung gearbeitet? Aber wenn er an der Universität Wolkenkuckuckskurse belegt hatte, warum schloss er dann als Ingenieur ab?
»Ich habe bei ihm die Diplomarbeit geschrieben, nachdem Sie schon fort waren«, erklärte er. »Professor Dyer hat mir sehr geholfen und Sie oft erwähnt. Ich habe auf einigen Ihrer Veröffentlichungen aufgebaut.«
»Tatsächlich?« Natalie fühlte sich plötzlich erheblich weniger selbstsicher als noch einen Augenblick zuvor. Es lag nicht an Dyer, es lag auch nicht an seinen Worten, es lag an seiner Stimme. »Auf welchen?« Sie hielt die Tür auf, und Hilbert trat mit seinem Koffer ein. Sie zog ihre Sicherheitskarte durch die Innentür zum Behandlungstrakt und geleitete Hilbert durch die Luftschleuse.
»›Memetische Kartierung von Axonen im Grundzustand‹ und ›Konversionstheorie metaphorischer Abläufe‹.« Er stolperte nicht über die Fachausdrücke. Sie lauschte genau darauf, wie er die Silben aussprach.
Als sie gezwungenermaßen stehen blieben, um die Luftfiltration und die Tests abzuwarten, schob Natalie ihre Sicherheitskarte in die Tasche. Scheiß drauf, dachte sie. Perfekt und doch verrückt. Sie wandte sich ihm zu und sah ihm in die dunklen, aufrichtig blickenden Augen.
»Sie sind Charles Dyer noch nie begegnet, oder?«
Natalie Armstrong entsprach nicht im Geringsten dem Bild, das Jude sich von ihr gemacht hatte. Ihren Fotos glich sie nur formal, und ihr Gesicht schien in der Mitte dramatisch gespalten zu sein: belebt auf der linken Seite, ausdruckslos auf der rechten. Die großen, schrägen grauen Augen blickten ruhig und konzentriert unter dem stachligen, magentaroten Haar und wirkten einschüchternd. Was die Fotos nicht zeigten und worauf er nicht vorbereitet war, war die wache, sprungbereite Intelligenz hinter den Augen. Jude bezweifelte, ob sie ihm seine Geschichte länger als eine halbe Sekunde abgekauft hatte. Er spürte das Pochen seines Blutes unter dem engen Hals des Overalls.
»Nein«, gab er zu und stellte den Koffer ab. »Ich habe am MIT Biologie studiert und bin dann zu den Marines gegangen. Später hat man mich für eine Sonderabteilung gekapert, eine Sonderabteilung beim …« Er zögerte, als er sah, dass ihr Gesicht sich zu einem höhnischen Ausdruck verzog, während sie lautlos aussprach: »… beim FBI.«
Der Schwung ihres außergewöhnlichen Mundes verriet eine Mischung von Belustigung, Resignation und Enttäuschung, alles auf einmal. Jude ertappte sich dabei, wie er dieses präzise Muskelspiel mit unprofessionellen Spekulationen betrachtete.
»Ja.« Er brauchte einen Augenblick, doch dann dämmerte ihm, dass er am Sorgentelefon mit ihr persönlich gesprochen hatte. »Hören Sie, es ist kein besonders guter Anfang, aber ich habe es zuerst auf offiziellem Wege versucht, und …«
»Okay.« Sie hob die Hände, und ihr war anzusehen, wie lästig es ihr war vorzugeben, dass sie ihm glaube. »Sie haben sich große Mühe gegeben, mich zu sprechen. Wir stecken hier nun fünf Minuten fest, weil die Sicherheitssysteme der BSL-4-Luftschleuse so
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