Mara und der Feuerbringer
Schlangerich, der sich gerade aus der Höhle schob, war so lang wie zwei Stadtbusse und maß vom Boden bis zum höchsten Punkt des gigantischen Schädels mindestens drei Stockwerke! Mehr als groß genug also, um Siegfrieds Schwert im Vergleich wie ein Streichholz wirken zu lassen.
Wie benebelt von dem Anblick vernahm Mara neben sich dieStimme des Professors: »Zwo, vier, sechs, acht, hihihi, zehn, zwölf, hohoo!«
Kein Zweifel, er zählte die Beinpaare des Geschöpfes und schien sich darüber zu freuen wie ein Kind! Mara erinnerte sich, dass er auch über ihre Zeichnung der Midgardschlange ähnlich begeistert gewesen war, weil es seine Theorie zum Aussehen des Monsters bestätigte.
Mit einem Drachen, wie Mara ihn sich vorstellte, hatte dieses Ungetüm tatsächlich wenig gemein. Das, was sich da auf sechs Beinpaaren aus der Höhle schob, sah eher aus wie eine Mischung aus Schlange und lang gestreckter Kellerassel. Die Augen und das Maul hatten etwas Schlangenartiges, während die Panzerung insektenhaft wirkte. Man musste wohl Wissenschaftler sein, um sich über diesen Anblick freuen zu können. In etwa so wie dieser völlig begeisterte Herr neben Mara, der gerade dazu übergegangen war, sich vor unterdrückter Freude in die Hand zu beißen.
Mara war froh, dass sie das Geschehen von hier oben beobachten konnte. Hier drohte ihr von dem Untier keine Gefahr. Und außerdem würde der Lindwurm gleich ganz andere Sorgen haben als irgendwelche heimlichen Zuschauer: Jeden Moment würde er nämlich über Siegfrieds Versteck kriechen und der würde dann hoffentlich auch zustechen!
Ja, allem Anschein nach schien die Sage vor ihren Augen bis jetzt ihren mythologisch korrekten Verlauf zu nehmen, und sie hatten hier oben so etwas wie Logenplätze. Kurzerhand zückte Mara noch einmal ihr Handy und machte noch ein Foto. Was Papa wohl zu
diesem
Bild sagen würde? Vermutlich nicht viel, denn solche Bildchen konnte man sich heutzutage mit jedem x-beliebigen Handy-Sparpaket besorgen. Und die sahen dann sogar weniger verwackelt aus. Vielleicht sollte sie versuchen, sich selbst zusammen mit dem Drachen aufs Bild zu kriegen? Oder ob der Professor vielleicht so nett sein würde und … Schließlich waren sie ja in Sicherheit, solange sie nicht mit Blitzfotografierten oder wild mit den Armen rudernd durch die Gegend brüllten.
»Ähm, Herr Professor, könnten Sie mir bitte einen kleinen Gefallen tun?«, flüsterte Mara leise und streckte ihm ihr Telefon entgegen.
»
Litilvölva!
«, antwortete der Professor und starrte Mara dabei aus schwarzen Augen an. Mara war viel zu erschrocken, um irgendetwas darauf zu erwidern, und bereute es sofort.
»LITILVÖLVA!«, wiederholte der Professor in zehnfacher Lautstärke, und Lokis Stimme nutzte dabei wirklich jede landschaftlich geeignete Gelegenheit für ein Echo: »HÖRE, höre, höre MICH, mich, mich!«
Offensichtlich fühlte sich aber nicht nur Mara angesprochen, sondern auch der Lindwurm. Echsengleich horchte er auf, wendete sich von Siegfrieds Versteck ab und dem ihren zu. Die Augen des Monsters verengten sich zu Schlitzen, als es Mara direkt in die ihren starrte! Dabei nahm es immer mehr an Geschwindigkeit zu, und hätte es dabei das Geräusch einer schneller werdenden Dampflok gemacht, ach wie verdammt passend wäre das gewesen …
Kapitel 9
D er Anblick des herannahenden Monsters riss Mara aus ihrer Starre. Sie packte den Professor an den Schultern und schrie: »Nicht jetzt, Loki! Bitte nicht jetzt!«
Mit einer Ruhe in der Stimme, die einer panischen Flucht völlig unangemessen erschien, antwortete der Professor in Lokis höflichem Tonfall: »Nun, dann bitte ich dich hiermit, bei nächster Gelegenheit noch einmal Gast in meinem steinschmucken Heim zu sein, kleine
Völva
. Der Loki möchte dir von einer Beobachtung berichten, die …«
»Jajajaja!«, unterbrach Mara den Redefluss des sprachgewandten Halbgottes. Endlich hatte sie es geschafft, den Professor auf die Beine zu zerren, und zwang ihn nun mit aller Gewalt, weg vom Rand der Senke zurück in den Wald zu stolpern.
»Ich komm so schnell ich kann, aber jetzt müssen Sie unbedingt aus dem Professor verschwinden! Sofort!«
Mara konnte noch aus den Augenwinkeln erkennen, dass Siegfried hinter dem Drachen aus seinem Versteck geschnellt war und, ohne zu zögern, auf sein Pferd zurannte, das ihm bereits den Abhang hinab entgegenkam!
Braves Pferdi!, dachte Mara irrsinnigerweise, während sie den Professor zwischen zwei Bäumen
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