Márai, Sándor
zurückkehrend, umso inniger und zärtlicher zu lieben. Für einen Mann tun Frauen tatsächlich alles: Sie können leben, sie können sterben, ganz wie’s beliebt.
DIESE FRAU HATTE ZEIT
Diese Frau hatte immer Zeit. An ihr war etwas Stilles und Zeitloses. Sie kam atemlos an, weil sie stets voll eingespannt war, warf hastig Hut und Handschuhe hin; und dann plötzlich hatte sie Zeit. Ihre Zeitreserven entsprachen denen einer Standuhr: Ihr Herz, ihre Liebe und ihr Frohsinn tickten in Dimensionen der Unendlichkeit oder zumindest auf große, sich dahinwälzende Zeitperspektiven zu, langsam, gleichmäßig, und gelegentlich ließ sie mit leisen Worten einen Schlag ertönen, um damit zu signalisieren, dass es schon nach halb zehn war, etwas zu Ende ist oder beginnt. Manchmal, je nach Laune, gab sie sogar einen Kuckucksruf von sich. Sie stand in einer Ecke des Lebens, tickte leise vor sich hin, und aufziehen musste man sie nur alle drei, vier Wochen.
WINDSTILLE, DÄMMERLICHT
Lähmende Tage zu Frühlingsbeginn, an denen uns die Kraft zum Aufstehen fehlt, wir gehen nicht ans Telefon, auch wenn es noch so unverschämt aufdringlich kreischt, und nur ganz dunkel erinnern wir uns an Kraftakte wie Arbeit, Karriere oder Literatur … Tage, an denen wir verzweifelt fühlen, dass wir etwas versäumen, voll Verachtung auf den Stift blicken, wie der Mörder, den das Gewissen quält, wenn er seine blutige Waffe betrachtet, lesen mit Ekel die edelsten Prosatexte, sehen weg, um die Frau nicht grüßen zu müssen, der wir gestern noch einen Brief geschrieben haben, lesen voll Abscheu in der Zeitung Wörter wie Neapel oder Brügge. Und erst viel später werden wir gewahr, dass diese Tage etwas gezeitigt haben. Das Leben arbeitet leise: bei Windstille und im Dämmerlicht.
JUNGE STRÄUCHER
Diese minderjährigen Gewächse in ihren blassgelben und zartgrünen Röckchen, Anfang April; der Spaziergänger beugt sich über sie, blickt sich dann aber erschrocken um, ob der Schutzmann diese Bewegung auch nicht gesehen hat.
VERSAILLES
An einem matschigen, feuchten Märznachmittag im Garten von Versailles: Vater geht vorneweg, stumm, über den Rasen. Betrachtet schlecht gelaunt die Sehenswürdigkeiten. Ist zum ersten und letzten Mal hier und auch in Paris.
Er war schon über sechzig, als er Paris zu Gesicht bekam. Mitten im Park bleibt er stehen und fragt beiläufig: »Wo ist hier Trianon?«*
Er will dorthin geführt werden. In dem Saal, wo man den niederträchtigen Vertrag unterzeichnet hat, schreitet er wortlos umher, sieht sich den Marmortisch an, gibt in seiner Verwirrung dem sich mehrmals verneigenden Huissier* einen Hundertfrancschein. Dann entfernt er sich rasch, stumm, etwas verstört. Ich frage ihn, ob er nicht noch die Wasserspiele sehen möchte. Er winkt ab und gibt mir zu verstehen, dass er nichts mehr anzuschauen wünscht. Auf dem Rückweg, im Wagen, spricht er kein Wort mehr.
ASCHE AUFS HAUPT
Ja, ich habe aus Eitelkeit gesündigt. Wenn es aber doch nicht anders geht! Wer ist schon so stark und mächtig, dass er sich nicht bestätigt sehen möchte, sein Werk, seine Mühen, seine Persönlichkeit? Ich bin nicht so mächtig und stark. Die armseligste Attacke, der leiseste Tadel deprimiert mich auf Tage, ich verliere mein Selbstvertrauen, finde nicht den Mut, den Stift zur Hand zu nehmen. Das kleinste Lob richtet mich auf, beruhigt mich, etwa wenn ein Mensch, auf dessen Meinung ich sonst nichts gebe, mit zerstreuter Höflichkeit bemerkt: »Unlängst las ich etwas sehr Amüsantes von dir. Warte mal, was war es doch gleich … Ich komm jetzt gerade nicht darauf.« Da drücke ich dankbar die wohltätige Hand, die mir für Stunden, manchmal für Tage mein Selbstvertrauen wiedergab. Ich habe gesündigt beim Essen und Trinken: Mir fehlt die Ausgeglichenheit, ich kann fasten, um dann gleich wieder gierig über Fleisch und Wein herzufallen, als würde ich schwelgen. Auch was die Sorgfalt angeht, habe ich gesündigt: habe nicht aufmerksam genug gelesen, worüber ich dann so lang und ausführlich vortragen konnte, als wäre ich in alle Einzelheiten und Geheimnisse des Stoffes eingeweiht und gründlich eingedrungen. Habe eine Menge Goethe gelesen, doch manchmal glaube ich, dass der Deutschlehrer einer höheren Schule Zuverlässigeres über ihn weiß als ich. Umsonst nahm ich mir vor, täglich eine Stunden spazieren zu gehen. Lieber saß ich im Kaffeehaus und schrieb dort möglicherweise einen Artikel, ja über die berechtigte Missbilligung der
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