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Márai, Sándor

Márai, Sándor

Titel: Márai, Sándor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die vier Jahreszeiten
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Kaffeehausperspektive. Ich war unter den Menschen nicht selbstsicher, hart und unmenschlich genug, aber auch nicht genügend menschenfreundlich. War nicht so wie … ja, wie war ich doch gleich? Asche, Asche auf mein Haupt.
    DAS GETRIEBE
    Doch manchmal vernehme ich die Zeit, wie ein großes Räderwerk, das langsam läuft und sich dreht mit seinen riesigen, glänzenden Rädern, dem schwingenden, ölig glitzernden Metallgestänge, stampfend und gleichmäßig, wie es etwas zermahlt oder erzeugt, Treibstoff frisst und Produkte in die Welt setzt und wie es mit spezieller Übersetzung andere Maschinen antreibt und dreht, Menschen, Sonnen, Monde und Sterne. Es ist so unbeteiligt und so beharrlich! Erzeugt Objekte und Leben und zermalmt schließlich seine Produkte. Hörst du es? Hier irgendwo summt es, in dir und ganz in der Nähe, überall, betriebsmäßig und im Stillen.
    PROUST
    In der Literatur ist er jetzt schon so etwas wie ein ganzer Kontinent, auf dem sich immer neue Völkerstämme ansiedeln, ihn kolonisieren, indem sie einzelne Landstriche für sich nutzbar machen, diese düngen, jäten, voll und ganz bewirtschaften und zu Wohlstand kommen, Fett ansetzen, also nette kleine Vermögen anhäufen und es sich auf der Pfründe wohl sein lassen … Da sind Europa, Asien, Afrika, Australien und Amerika, da sind die großen Schriftsteller, sodann die Heiligen und Propheten, und schließlich gibt es noch Proust.
    DER TRAPEZKÜNSTLER
    Morgens gegen drei kommt der Trapezkünstler ins Kaffeehaus, isst zwei Sardinen, trinkt dazu eine Schale Kaffee, setzt sich dann ans Fenster und beginnt mit dem Hilfsredakteur des Wirtschaftsressorts Schach zu spielen. Er ist so leise und gesittet wie ein junger Priester, so feinfühlig und bescheiden. Seine Darbietungen absolviert er ohne Netz. Noch vor ein paar Stunden schwang er sich in schwindelnder Höhe im glitzernden Trikot wie ein schillernder Silberfisch, den das Schicksal mit beängstigendem Schwung aus seinem Element geschleudert hat und zwischen Meer und Himmel aufblitzen ließ – er flog diszipliniert, mit harmonischen Bewegungen zwischen den Stangen der Schwingschaukel hin und her, in beängstigender Stille, die nur durch den Trommelwirbel gestört wurde, so wie bei einer Hinrichtung getrommelt wird. Jetzt, nach dem Abenteuer und der Darbietung, sitzt er still und genügsam da, gut erzogen, seine zarten, weißen Finger heben einen Turm vom Brett, und er lächelt entschuldigend. Aber natürlich, so leben wir: Und wozu sollte das Publikum das wissen, denke ich.
    ABBAZIA
    Ich weiß, es schickt sich nicht, aber ich liebe dich dennoch, Abbazia. Du hast etwas kleinbürgerlich Spießiges, etwas groschenhaft Vordergründiges und beschämend Ringstraßenhaftes.* Was soll ich tun, wenn ich mich dennoch wohlfühle unter deinen schmächtigen Palmen, in dem Gewässer, das hier noch gar kein richtiges Meer ist, nur salziges Wasser in einer Bucht, inmitten deiner Blumen, die noch ganz mitteleuropäisch sind wie auch dein Schicksal – als wärst du der Hafen von Wien, Budapest und Prag, und als eilte man mit sämtlichen kleinbürgerlichen Kehlkopfkatarrhen, Herzbeklemmungen, Schlaflosigkeiten und billiger Liebe hierher, etwas verschämt, weil es für größere Ziele und zu mehr nicht reicht. Du gehörst zur Familie, Abbazia. Natürlich, Cannes ist feiner. Aber du bist bekannter, banaler, vertrauter. Lass sie nur an die französische Riviera gehen, die feinen Lords und die nobelpreisdekorierten Politiker, die Grandes Dames und die großen Ganoven. Jetzt, im Frühling, rüste auch ich mich für die mir vertrauteren, bescheideneren, ordinäreren Palmen, für Abbazia.
    SCHERBEN
    »Die« Frau gibt es natürlich nirgendwo. Es gibt Scherben, die wir mit ungeschickten Fingern zusammenzufügen versuchen. Das komplette Ganze muss etwas Vollkommenes gewesen sein. Wir besinnen uns gar nicht mehr darauf; nur die Erinnerung an das Abbild dämmert uns, die Abbildung, die wir irgendwann einmal gesehen haben, das Bild einer Frau in einem medizinischen und kulturhistorischen Buch, im Paradies oder an einer Straßenecke.
    ABENTEUER
    Ein Tag im März, an dem ich mich nicht herausrühre aus meiner abgedunkelten Stube, und hinter den heruntergelassenen Rollläden, inmitten von Arbeit, Trödeln und Herumkramen, spüre ich, dass sich draußen in der Welt etwas tut, was ein klein wenig unsauber ist, schmierig und süß, ein bisschen wie Sekt, aber auch wie geronnenes Blut, schrill und betäubt zugleich, bunt getüpfelt

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