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Márai, Sándor

Márai, Sándor

Titel: Márai, Sándor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die vier Jahreszeiten
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Auslaufen ist. In diesem Alter, um die vierzig, wusste Goethe, dass sich Eile nicht lohnt, dass er noch viel Zeit hat, fast ein halbes Jahrhundert. Ein phänomenales Bewusstsein, das unaufhörlich in uns tickt, die Jahre schlägt, uns daran erinnert, wie viel Zeit uns noch bleibt. Goethe und Tolstoi legten ihr Leben auf achtzig Jahre an. Shakespeare hatte es schon eiliger: Er schrieb in zwanzig Jahren alles nieder, weil er wusste, dass er mit fünfzig aufhören muss. Wir tragen irgendeinen Maßstab in uns, haben ein Bewusstsein gegenüber dem Leben und dem Tod. Hetzen umher, reden über ganz andere Dinge, und doch wissen wir Bescheid.
    BLUMEN
    Sie treten eine nach der anderen auf wie Mannequins in der Modenschau: schlank, mit eitlen Hüftschwüngen ihre Pracht entfaltend, die zweckfrei und unverständlich ist. Das Stiefmütterchen in seiner adretten und traurigen Tugendhaftigkeit, das Maiglöckchen mit seinem Unschuldsweiß von Erstkommunikanten und dem Schellengeläut, die Tulpen, Pfingstrosen und die ersten Rosen im taubehauchten Glanz ihrer altmodischen Formen und dem Duft verzehrender, süßer Leidenschaft. Premierenmonat der Blumen ist der Mai.
    Neue Blumen gibt es nicht. Die Nelke, die Rose sieht heute nicht anders aus als zu Horazens Zeit. Das Veilchen hat sich nicht verändert. Auch das Blatt der Klette ist durch all die Jahrhunderte hartnäckig so geblieben, wie es immer war. Es stimmt schon, Rosen und Tulpen werden gekreuzt und weitergezüchtet: Es gibt bereits blaue Rosen, und ich hab sogar schon rosafarbene Maiglöckchen gesehen. Doch die Natur lässt sich auf solche kurzlebigen Moden nicht ein. Sie begnügt sich mit ihren althergebrachten Erfindungen und zeigt jeden Mai dasselbe, womöglich in gezähmter, verkleinerter, zivilisierter Form. Möglich, dass die Rose in Urzeiten so mächtig war wie heute die Eiche. Aber auch damals war sie nur eine Rose: Und der dazu passende Riese pflückte und überreichte sie einer mythischen Dame, deren Haupt in die Wolken ragte.
    RILKE
    Er muss erschreckend viele Erinnerungen gehabt haben. Wer vermöchte die Erinnerungen eines Dichters zu zählen? Als hätte einer die Punischen Kriege miterlebt, die Kämpfe der Roten und der Weißen Rose, die Nächte des Savonarola und obendrein alles, was die Menschen von Berlin oder Paris in einer Nacht denken, träumen und tun. Die Erinnerungen des Dichters sind grenzenlos. Ein Gedicht ist das Destillat aus Jahrmillionen und von Millionen Erlebnissen. Manchmal sind es nur acht Zeilen, und sie enden mit wohlklingenden Reimen. Von Wichtigkeit ist dies nicht. (Verhaeren* benutzte auch eine Reimesammlung.) Der Stoff zählt, aus dem das Gedicht gestaltet wird, der Stoff, der menschlich und übermenschlich zugleich ist, dazu etwas vom Tagesgeschehen und auch von dem, was Gott dachte, als er die Welt erschuf.
    GESZTER LIEBE
    Vier Uhr nachmittags in dem kleinen Badeort, der Zigeuner spielte, und wir tranken in der gelb glühenden Hitze Wein. »Geszter Liebe« nannte sich der Tropfen. In der Verbindung dieser Begriffe und in ihrer Tonlage, im etwas ranzigen Odeur des Badeortes, im Heißluft verströmenden Backofen dieses Sommernachmittags, in der frühnachmittäglichen Zigeunermusik, dem dunkelgrünen Schatten der reglosen Laubbäume, in unserer Stimmung, unseren Träumen und dem leichten Rausch lag tatsächlich etwas, das an den Taumel der ersten Liebe erinnert. Wie war denn gleich diese Liebe? Leicht süßlich und irgendwie prickelnd, ein bisschen Melancholie blieb davon zurück, ein kleiner Schwips in der Seele … Ich erinnere mich nicht mehr. War es eine große Liebe? Es war eine Geszter Liebe.
    DEAUVILLE
    Ein in der Schmuckschatulle des Meeres und des Himmels glitzerndes, leicht suspektes Kleinod, nach dem die knochige, gelbe Hand eines Kartenspielers und das auf Werbeplakaten häufig verewigte Händchen einer Frau mit rot lackierten Fingernägeln gleichzeitig greifen.
    FLUT
    Innerhalb von zwei Wochen hat das Laub die Stadt überflutet. Die grüne Flut überschwemmt alles und spült es fort. Als wäre irgendein unbekannter Donaustrom über die Ufer getreten. In kräuselnden, dicken Wellen wälzt er sich beiderseits der Fahrbahn entlang, so unmäßig und ergiebig, dass er Angstgefühle weckt.
    In der Flut schwimmen Männer und Frauen, Mütter und Kinder, Greise und junge Paare, sich in ohnmächtiger Angst an den Händen haltend, mit glänzenden Augen, mit Schreien, die ihnen im Hals stecken bleiben und ersterben. Die Vögel kreischen ob

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