Márai, Sándor
Festes. Wie Maiglöckchen und Maikätzchen gibt es auch Maiselbstmörder. Hilflos flieht der Mensch vor diesem Angriff hinter das Bollwerk der Zivilisation. Im Mai kann man kein Buch schreiben. Auch kaum eines lesen. Jedwedes Leben empfindet die Düfte und Strahlen als Attacke auf sich selbst und gegen die Vernunft. Im Mai ist die Sonne gnadenloser und gefährlicher als die ungebändigt sengenden Strahlen der Augustsonne, die mit ihrem goldenen Schwert, wie ein orientalischer Krieger, wutentbrannt, mit blutunterlaufenen Augen um sich schlägt. Der Mai tötet, wie es Meuchelmörder tun, denen man schutzlos ausgeliefert ist, mit Gift und mit goldener Nadel. Auch den Hirntod gibt es im Mai. Die Natur ist da wenig sensibel.
Der Gemeinplatz des Monats ist die Liebe: genauer gesagt, wie in ganz schlechten und ganz guten Romanen, die Liebe und der Tod. Die Erscheinungen der Natur haben im Mai etwas Dilettantisches und zugleich etwas von einem Meisterwerk. Dies ist der Monat, in dem viele Menschen sich, alarmiert und pflichtbewusst, nach der Liebe umsehen, genauso wie sie sich im Winter Schneeschuhe besorgen oder im Sommer eine Dauerkarte fürs Freibad kaufen. Die Mailiebe ist unzuverlässig. Meist gilt sie gar nicht der Person, sondern fügt sich nur dem Druck der allgemeinen Stimmung, dem Mai. Den Willkommensgruß der Mailiebe erwidern wir im September ehrerbietig und mit großer Verwunderung. Ist es denn möglich? Wo hatten wir unsere Augen? Im Mai ist jede Frau ein wenig Titania. Eines Tages erwacht sie aus dem Zauberbann, schaut in den Kalender, betrachtet den angebeteten Eselskopf und wundert sich.
Ich erinnere mich an einen Mai am Meer, zwischen Afrika und Europa, ohne Blumen und Blattwerk, als all das, was in diesem mysteriösen heidnischen Monat die Menschen auf dem Festland beunruhigt, vom Meer her auf mich einströmte, aus der warmen Brise, aus den gebrochenen Strahlen des Sonnenlichts. Der Mai ist auch ohne Blumen erbarmungslos. Ich entsinne mich der Maimorgen in meiner Kindheit, als wir in der Hauskapelle der Schule inmitten von Pfingstrosen und Lilien vor dem Marienaltar ministriert haben. Die Melodie dieser Morgenstunden höre ich manchmal. Ich erinnere mich an einen Mainachmittag, an dem ich beinahe gestorben bin wegen einer Frau. Nun kann mir nichts mehr passieren. Ich bin erfahren und vorsichtig, wende mein Gesicht dem rohen, gärenden Maienlicht zu und denke mit geschlossenen Augen: »Schade.«
SPANIEN
Ich schließe die Augen, im Kaffeehaus, Zeitungspapier in Händen, von dem in Riesenlettern schreit, dass wieder ein Stück von Spanien vernichtet wurde. Was ist von Montag auf Dienstag zerstört worden? Nicht nur die Steine am Altan einer Kirche, die buttergelben Steine, die die Zeit hat verwittern lassen. Irgendwo, vor einer Kathedrale, auf deren Vorplatz einst die Flammen der Inquisition loderten, liegen Menschen mit aufgerissenen Bäuchen, wie verendende Pferde in der Stierkampfarena. Ich höre ihr Stöhnen, dann leidenschaftlichen Trauergesang. Etwas wurde zerstört, zertrümmert, was nicht nur Stadt war, ein Kunstwerk, ein Bad – vernichtet ist das Spaniertum, das zugleich Tote Hand* und Velazquez, politisierendes Heer und El Greco, Gil Robles und Don Quijote war, eine tiefe Verneigung und verliebtes Lächeln unter schwarz vergittertem Erker, bordeauxrote Rosen und dickfleischige, phosphorglänzende Fische in Marktkörben, Stolz und zerlumptes Elend, diese glutheiße, dunkle Mischung, die auch in ihren besten Augenblicken ein wenig afrikanisch war, diese Vergeistigung, die schielend und irr in den Gesichtern der auf den Scheiterhaufen Geschleppten und der Kleriker funkelte, die das Feuer umstanden – oh, ihr Scharfrichter, Ritter, Besessene, Verliebte, Stiertöter, Blutgeruch und Weihrauch, dunkle Kapuzen und Spitzentücher um ein süßes, blasses Antlitz, spanische Dichter und spanische Darmputzer, Erhabenheit, ewige Erhabenheit und Elend, ewiges Elend, ich zitiere dich herbei, rufe dich noch einmal, schreie deinen Namen in die Welt hinaus, psalmodierend, Rechenschaft fordernd, zu Grabe tragend.
ZEIT
Goethe hatte Zeit. Es gibt Menschen, die mit der Stoppuhr in der Hand leben, immerfort auf irgendwelche Ziele zuhasten und die Sekunden zählen. Andere leben wie heranwachsende Bäume, ganz langsam und beharrlich, sie wissen, dass sie noch viel, sehr viel Zeit haben, Jahrzehnte. Viele in meinem Alter wissen schon, dass die eigentliche Zeit ihres Lebens bereits abgespult, dass der Mechanismus im
Weitere Kostenlose Bücher