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Márai, Sándor

Márai, Sándor

Titel: Márai, Sándor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die vier Jahreszeiten
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verstorbenen Dichters. Er hat ein paar vollkommene Gedichte und unzählige vollkommene Gedichtzeilen hinterlassen.
    Der Dichter ist arm gestorben, und seine Familie schaut ihm hungrig, im Elend und hilflos in den Himmel nach. Ein Papierfabrikant gab das Papier gratis, eine Druckerei hat den posthumen Band des Dichters kostenlos gedruckt und gebunden, Freunde verfassten das Vorwort und besorgten die Auswahl. Die Witwe des Dichters bekam viertausend Exemplare geschenkt. Jetzt verkauft sie pro Tag einen Band der Gedichte; davon lebt die Familie.
    So sorgt der tote Dichter noch viertausend Tage lang für seine Familie. Füttert sie mit seinen Gedichten. Ich betrachte den Band und denke: ein Pelikan. Pelikan des Himmels.
    PFINGSTROSEN
    Die Gärten füllen sich mit Pfingstrosen, und plötzlich wird die Welt so schwer und heiß, als trüge sie die Last einer Emotion und einer Erkenntnis; sie spricht stotternd wie jeder, den ein Gefühl überwältigt und trunken macht. Das ist nicht mehr die Liebe, auch nicht der vorlaute, eitle Lenz; dies ist bereits das Leben, mit seinem ganzen Gewicht, seinem Duft, seinem Schicksal.
    DER IGEL
    Als Ede sich in Etelka verliebte, wollte er gern alles wissen, und wie eine verliebte Frau sich mit Federn und Blumen ziert, begann Ede plötzlich, aus der verbalen Bildung zu fliehen, und sehnte sich leidenschaftlich nach den konkreten Fakten.
    »Was weißt du von der Welt, von der Realität?«, fragte er mich überheblich.
    »Wenig«, bekannte ich.
    »Weißt du«, fragte er, »was ein Igel frisst?«
    »Grünes Laub«, sagte ich.
    »Nein!« rief er großspurig. »Der Igel ernährt sich von Insekten. Ich weiß es von Etelka.«
    Da hatte ich begriffen, dass er verliebt war.
    ZWISCHENSPIEL
    Heutzutage ist das Zwischenspiel interessanter als das Stück, als die große historische Vorstellung selbst. Auf die Brüstung des Olymps gestützt, sehe ich sie mir von oben an.
    Wie interessant sie jetzt sind! Wittern den Wind, blicken nach rechts, blicken nach links, sie »positionieren sich«, wie sie sagen. Ganz sicher kann man noch gar nichts wissen. Sie grüßen knapper als gestern oder ausführlicher, verneigen sich tiefer: wie gesagt, nichts ist schon mit letzter Gewissheit zu sagen. Plötzlich fallen ihnen ihre Sünden ein, und sie bekommen tiefrote Köpfe, räuspern sich verlegen und wechseln das Thema. Dann erinnern sie sich, dass sie vor zwei Jahren in irgendeiner Gesellschaft einmal sagten: »Aber eigentlich kann man das so nicht sagen, bitte, jedes Experiment trägt seine Früchte!«, und beginnen dann befreit zu hecheln. Jetzt spielen auch sie, das Publikum. Gelegentlich applaudiere ich von oben, vom Olymp herab. Sie sind, besonders in den Nuancen, besser als Berufsakteure.

JUNI
    In diesen Wochen beginne ich, still zu reisen. Weite Reisen mag ich nicht mehr. Ich bevorzuge mir vertraute Ziele. Noch vor einigen Jahren musste es, wenn mich das Reisefieber überkam, mindestens Bombay oder China sein. Als ein ganz nahes, gleich um die Ecke gelegenes Ziel, das ich mir gähnend überlegte, schwebte mir San Francisco vor. Aber jetzt will ich nur noch langsam reisen, sehr langsam. Es muss gar nicht sein, dass sich der Zug fortbewegt, wichtig ist, dass ich vorankomme. Das ist viel schwieriger.
    Nach Goethe ist auch das Ankommen nicht wichtig. Von Bedeutung ist nur das Fahren, dieses Schweben zwischen zwei Zuständen, dem Zuhause und der Unendlichkeit, zwischen dem Vertrauten und dem Gefahrvollen. Im Juni beginne ich stets von Neuem zu reisen, vorsichtig und überlegt, mit der Umsicht eines Kapitän Scott und dem Argwohn des Genesenden, der wieder gehen lernt. Manchmal reise ich nur in die nächste Straße, mit Plaid, Spazierstock und Handgepäck. Ich erwache im fremden Zimmer und staune blinzelnden Auges, erschüttert und demütig über das wunderbare Abenteuer der Veränderung. Ein fremder Schrank kann so beeindruckend wie Bagdad sein. Die Welt ist in uns. Von Zeit zu Zeit muss man aufbrechen zu ihr.
    Dies ist der Monat, in dem sich die Wohnung auf den Weg macht, wie ein Schiff, und sich langsam fortbewegt, mit unserem Leben an Bord hin zu einer milderen, wärmeren Klimazone. Gestern Nacht, im Mai, hat es noch geregnet, irgendwo, in unserem eigenen Triest; doch am Morgen, erwachend, stellen wir fest, dass unser Leben in einen neuen Hafen eingefahren ist. In der Morgendämmerung legen wir an und stellen, uns die Augen reibend, fest, wir sind in einer fremden Stadt gelandet, in der sich Frauen und Männer

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