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Márai, Sándor

Márai, Sándor

Titel: Márai, Sándor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die vier Jahreszeiten
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die Augen schließt, in der Fremde, nach der Vorstellung, träumst du von Lajosmizse. Reich mir die Hand zum Abschied. Drück sie mir, so, kräftig. Ich möchte dir etwas mitgeben auf den Weg, auf den Wanderweg der Fremdheit und der Zwergenhaftigkeit. Ich schaue dir in die Augen und denke: »Und doch, und dennoch, wir sind Menschen.«
    Und wir verabschieden uns, auf dem Bahnhof von Triest, als Kumpane und Verbündete unter fremden Zwergen und fremden Riesen, die sich geschwind zu etwas verschworen haben.
    VOLPONE
    In der ursprünglichen Fassung des Ben-Jonson-Dramas, das noch nicht von gewandten, modernen Professionisten ihres Faches gekürzt und gezähmt worden ist, schickt der venezianische Richter am Ende des Stückes und zum Schluss von allem die ganze Kompanie auf die Galeere: Volpone und Mosca, Corbaccio und Corvino, die tugendhafte Bürgersfrau und die fröhliche Hure … die ganze Gesellschaft samt ihren Tugenden und mit allen Lastern, weil es sich nicht lohnt, zu sehr zu selektieren. Dieses pauschale Urteil moralisiert nicht. »Genug von dieser Gesellschaft!«, denkt der Richter von damals. Und auch der Zuschauer von einst hat es so empfunden: genug von dieser Gesellschaft.
    Diese summarische Verurteilung, das spleenig-lässige Bekenntnis eines Dichters ertragen wir mit unserem viel sensibleren und fortschrittlicheren Rechtsverständnis nicht mehr. In solchen Situationen spüren wir, dass Gerechtigkeit eine fürchterliche, willkürliche und uneingeschränkte Sache ist. Wir vertrauen nur noch auf das Recht. Ben Jonson glaubte noch an die Gerechtigkeit.
    DAS LÄCHELN
    Maupassant hielt an Schopenhauers Sterbebett Totenwache und sah, als er vom Sekundenschlummer erwachte, dass der Tote lächelte. Ja, der Mensch begreift schließlich etwas und wird sanft.
    MORPHIUM
    In drei Phiolen bewahre ich neun Kubikzentimeter Morphium auf. Gelegentlich öffne ich die Schublade und sehe mir beruhigt die Glasröhrchen an, wie ein Geizhals, der irgendeinen wunderbaren Schatz hütet. Der Schatz ist der Tod, der süße, schläfrige Tod, den mir keiner nehmen kann. Jahre vergehen, ohne dass ich an diese Phiolen denke.
    Aber hin und wieder nehme ich die feinen Glasröhrchen in die Hand, und mein Gemüt hellt sich auf. Eine so große Sache kann der Tod nicht sein, auch keine so schreckliche. Er hat keine Farbe, keinen Geschmack. Er hat kein Volumen, keine Eigenart. Alle irdischen Bezeichnungen beschreiben ihn unzulänglich. Alles, was wir sagen können, ist Definition; aber der Tod ist das Gegenteil jeglicher Begriffsbestimmung. Ich nehme die Phiolen, halte die Röhrchen gegen das Licht, dann zucke ich die Achseln und lebe weiter.
    DAS FRÜHSTÜCK
    Nach der Nacht, unter deren Schleier sie ihre Nacktheit entblößt hatten, begegneten sie sich auf der sonnigen Frühstücksterrasse des Hotels. Die Frau strich Honig auf die eine Hälfte der Kaisersemmel, der Mann aß Obst und sah auf seinen Teller.
    Abends nach dem Nachtmahl hatte ich die beiden am Tor zur Nacht entschwinden sehen, jetzt tauchten sie unter den Bedingungen des Tages wieder auf, gebadet, nach Eau de Cologne duftend und sportlich gekleidet. Der Mann war beim Frühstück betont, ja übertrieben höflich; die Frau ernst und formell.
    Das Wunder des sich Kennenlernens, das große und einzige Wunder des Kennenlernens haben sie nachts hinter sich gebracht. Was jetzt folgte, das war schon gesetzmäßig: Sie werden ein Verhältnis haben, heiraten oder glücklich sein, sich eventuell gegenseitig quälen. All das hat niemand mehr interessiert, nur die Verwandten und möglicherweise – später – das Gericht. Doch beim Frühstück saßen sie noch ernst, mit der betroffenen Feierlichkeit, als würde irgendwo eine Orgel dröhnen oder der Sommerwind Fahnen flattern lassen, und all das geschieht ihretwegen und zur Ehre eines umherziehenden Gottes. Aber die Frau wusste noch nicht, mit wie viel Stück Zucker der Mann seinen Tee zu trinken pflegt. Sie kannten erst einer des anderen Körper. Aus diesem Grund saßen sie mit gesenktem Kopf, lächelten verlegen und schämten sich ein wenig.
    LONDON
    Wenn ich an London denke, so ist mein stärkster, alles überlagernder Eindruck der Geruch, der mir in einer Nebenstraße von Whitechapel mit derartiger Heftigkeit, mit solcher Brutalität entgegenschlug wie ein betrunkener Wegelagerer: nämlich der Gestank der Katzen- und Hundefleischerei hinter dem Viehmarkt, in der man Leber und andere Innereien für die Vierbeiner von London

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