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Márai, Sándor

Márai, Sándor

Titel: Márai, Sándor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die vier Jahreszeiten
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und die dazugehörigen Gäste, die ein wenig beleidigt hier absteigen, weil es zu mehr nicht reicht: Als wäre all das tatsächlich ein »Betrieb«, ein strahlender, glitzernder Hotelbetrieb, mit gelangweilten schottischen Herren und gefährlichen, betörend leichten Damen, die schon am Vormittag Abendkleider und unechten Stirnschmuck tragen.
    Aber nachts, wenn die Bora heult und das alte Haus in allen Fugen knirscht, weiß ich, dass wir sinken. Auf dem Balkon zerrt und reißt der Wind an dem verschossenen Leinenvorhang wie am Segel eines ausgedienten Piratenschiffs. Das Hotel treibt langsam auf hoher See, seinem Verhängnis entgegen.
    Der Liftboy ist schon jenseits der siebzig und trägt einen Kaiser-Wilhelm-Bart. Er stand schon in der Menge, als Umberto* ermordet wurde. Langsam fahren wir, zwischen Stockwerken und Erinnerungen, der dritten Etage und irgendeinem historischen Höhepunkt entgegen.
    DER NACHBAR
    Die Bewohner des angrenzenden Hotelzimmers sind eingetroffen. Ich habe sie noch nicht zu Gesicht bekommen, beginne vorläufig nur, ihre Geräusche kennenzulernen. Sie packen aus, eine Männerstimme brummt, und eine junge Frauenstimme antwortet in einer fremden Sprache, vielleicht polnisch oder holländisch. Dann knipsen sie das Licht aus. Ein Gegenstand, Schuh oder Buch, fällt zu Boden. Der Mann hustet heiser. Gegen Mitternacht zündet er sich eine Zigarette an, ich höre das Geräusch des angerissenen Streichholzes.
    So fängt es an. In einigen Tagen werde ich sie streiten, seufzen, husten oder in der Verzückung des Traums ängstlich aufschreien hören. Auf diese Weise, mit solchen gewöhnlichen und rätselhaften Geräuschen, machen wir uns miteinander bekannt. Zwischen uns sind eine Rabitz-Wand* und das Geheimnis, dass wir Menschen sind. Wir leben in einer Vertrautheit miteinander wie Familienmitglieder und auch so fremd und in solcher Distanz zueinander wie Neger und Chinesen. Wir leben in ein und derselben Box der Welt: Ich habe die Frau schon glücklich lachen und den Mann fluchen gehört. Ein wenig kennen wir uns bereits. Etwas beginnt zwischen uns, diese geheimnisvolle Spielart der Verwandtschaft und der Fremdheit, die dezenter, aber zugleich vertraulicher ist als jeder offiziell vorstellbare Kontakt. Der Mann gurgelt am Morgen und am Abend ausdauernd im Bad. Die Frau sagte einmal auf Deutsch: »Eigentlich eine Schweinerei.« Dann schwiegen sie.
    Deshalb schweige auch ich. Hin und wieder hüstele ich. Gelegentlich husten auch sie. In der ungestalten Welt, im Wirrwarr der unendlichen Möglichkeiten vermischt sich unser Hüsteln, und vom Balkon, der mehr oder weniger gemeinschaftlich ist, betrachten wir hin und wieder denselben Stern. Unsere Blicke begegnen sich im Zeichen des Saturns. Das Rätsel ist zwischen uns, das Rätsel des Alls, der Individualität, des menschlichen Mysteriums.
    Dann, nach einem Abendessen, machen wir uns miteinander bekannt, und was bleibt, ist ein Zahnarzt aus Brünn.
    LAJOS
    Abends um sechs im Bahnhof von Venedig ruft eine fremde Stimme: »Laioss, Laioss!« Ich blicke aus dem Abteilfenster und sehe unten in der Menge, inmitten von Menschen, Zwerge. Zähle sie: Es sind achtundzwanzig. Vorneweg geht der kleinste, feierlich, ein spannenlanger Däumling. Auch Zwerge haben eine Hierarchie. Der Kleinste ist der Privilegierte. Er ist Laioss.
    Ich beuge mich hinunter, strecke ihm die Hand entgegen und sage erfreut auch »Lajos«*. Der Zwerg blickt an mir hoch; sein faltiges, kleines Gesicht lächelt. Wir stehen im lauen Abend, zwei Ungarn, ein Zwerg und ein Schriftsteller, der einsdreiundachtzig und voller Minderwertigkeitskomplexe ist.
    Lajos, der kleine Mann, leidet nicht unter Komplexen. Ein strahlender, stolzer Zwerg, ein starker, beherzter Typ. Auf seinem Bäuchlein prangt eine goldene Uhrkette. Wir drücken einander kräftig die Hand. Sie sind nach Bukarest unterwegs, haben dort ein Engagement an einem Varieté. Es sind achtundzwanzig, ja, italienische, deutsche, englische und ungarische Zwerge, Frauen und Männer. Lajos spricht ein deftiges Ungarisch, und die fremden Zwerge verfolgen geduldig unser Zwiegespräch. »Woher kommst du?«, frage ich ihn leise und vertraulich. »Aus Lajosmizse«, antwortet er.
    Zwischen uns herrscht eine Art Komplizenschaft, die Fremde nicht verstehen. Kleiner, ungarischer Zwerg, ich bin dein Verwandter. Ich akzeptiere dich auch als Zwerg, weil du aus Lajosmizse bist. Du reist durch die Welt und trägst deine Kleinwüchsigkeit zu Markte; doch wenn du

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