Marathon
der
Zerstörung.
Der Mörder legte
selbst Spuren. Warum? Für wen? Die unglaubliche
Gewaltbereitschaft, die nötig war, solche Taten zu
vollbringen, deutete auf einen starken Mann mit Selbstkontrolle.
Die Zahlen an den Wänden sprachen eher für jemand, der
nach Anerkennung suchte, der Aufmerksamkeit und Verständnis
wollte. Kein Ausdruck von Stärke. Eher ein Ausdruck des
Wunsches nach Stärke.
Sie brauchten diese
Psychologin nicht, die man ihnen zur Seite gestellt hatte. Er und
vor allem Remmer hatten selbst Erfahrung genug. Die meisten Morde
geschahen im Affekt, aus Eifersucht oder Habgier, seltener aus
Rache. Hier deutete alles auf Rache hin. Er schaute auf das
Kruzifix, das Leid Christi. Die Evangelisten haben Jesus in ihren
Erzählungen bluten lassen. Dornenkrone, Nägel, einen
Speer. Das Blut als Zeichen des qualvollen Todes, der Schmerzen,
die jemand erleiden muss, bevor er hingerichtet wird.
»Hingerichtet.
Natürlich, sie wurden hingerichtet.« Gröber
erschrak über seine eigene Stimme, hatte den Eindruck, sie
würde lautstark von den Wänden der kaputten Kirche
zurückprallen, doch die Männer, die um den Altar
herumliefen, beachteten ihn nicht.
Eine Hinrichtung ist
eine Strafe, keine Rache. Er bestraft sie. Blut an den Wänden,
das hat was Religiöses. Ein Zeichen, das uns etwas sagen will.
So etwas tut ein Profi nicht. Es sei denn, er hat dazu den Auftrag
von einem Irren bekommen, der viel Geld dafür bezahlen
kann.
Welches Hirn war in
der Lage, sich so etwas auszudenken? Das eines Verrückten?
Oder musste man völlig klar im Kopf sein, um so töten zu
können? Was für ein Auftrag: Töte sie und male mit
ihrem Blut Zahlen an die Wände! Zahlen für die Polizei,
Zahlen für die Nachwelt, damit sie diese Taten immer mit mir
in Verbindung bringen. Also waren die Zahlen doch ein klarer
Hinweis auf den, der für diese Morde verantwortlich
ist.
Was wussten sie
über die Toten? Zwei Männer im besten Alter, wie man so
schön sagt. Er wusste, dass es nicht das beste Alter war. Die
Toten waren ungefähr so alt wie er. Vierzig Jahre gelebt, um
dann von einem Irren abgeschlachtet zu werden. Es hatte Zeiten
gegeben, da wurden die Menschen auch ohne Mörder nicht
älter. Und? Waren das deshalb unglücklichere
Zeiten?
Der Mann mit der
Stablampe hatte einen Aktenordner aufgeschlagen, schien etwas
hineinzukritzeln. Der andere Mann hatte sich in die erste Bank
gesetzt. Was wird aus der Kirche mit dem schiefen Turm? Eine
Kneipe, ein Konzertsaal oder wieder eine Kirche. Wahrscheinlich
würde man alles wieder so herstellen, wie es mal gewesen
war.
Die Menschen
können nicht loslassen, dachte er. Alles soll so bleiben, wie
es ist. Und dann kommt einer und treibt es ihnen aus, indem er
ihnen ein Messer in den Hals oder sonst wohin sticht.
Gröber dachte an
Vosskamp. Man sitzt auf seiner Couch, denkt vielleicht mal wieder
über das eigene Alter nach, es klingelt, man macht auf. Ein
Mann kommt rein. Ein überraschender Besuch, keiner, über
den man sich freut, aber einer, den man reinlässt.
»Hallo, alter Freund«, sagt der Besucher. Das kann man
so meinen, aber auch einfach nur dahersagen. Er zieht sein Messer
und sticht einfach zu. Das Opfer starrt ihn an, weil es nicht
glauben kann, was da passiert. Das würde eher gegen die
Theorie vom Profikiller sprechen, denn den hätten die
Männer doch vor ihrem Tod noch nie gesehen.
In Bayenthal war es
anders. Hier war der Täter eingebrochen. Warum? Hätte
Leuschen ihn nicht hereingelassen, wenn er geschellt hätte?
Ihm fiel der hagere Mann vor dem Haus ein. Sah so ein Mörder aus?
Es ärgerte ihn, dass er kaum in der Lage war, diesen Mann zu
beschreiben. Lang und dünn, schütteres Haar, vielleicht
fünfzig Jahre alt, vielleicht auch ein bisschen jünger
oder älter. Der Scheinwerferkegel der Stablampe traf ihn
mitten im Gesicht.
»Hey Sie,
schlafen Sie, oder was machen Sie da?«
Anstatt auf die recht
unfreundliche Ansprache zu antworten, stand Gröber langsam
auf. Er ließ sich Zeit, bevor er in die laute Welt
zurückkehrte. Der Mann mit der Lampe machte einen weiteren
Versuch, von ihm eine Antwort zu bekommen, doch Gröber
ließ ihn mit seiner Frage allein und schlenderte wortlos
Richtung Ausgang.
Welche Verbindung gab
es zwischen Vosskamp und Leuschen?, dachte er, als er die Kirche
verließ. Das muss der Schlüssel sein.
20
Im
Polizeipräsidium war fieberhaft nach dieser Verbindung gesucht
worden. Sie hatten telefoniert, im Internet recherchiert, Menschen
zu
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