Marathon
ich sagen. Aber ich habe ihn
genau wie Vosskamp ewig nicht gesehen.«
»Warum
nicht?«
Gassmann holte den
Kaffee und stellte ein Kännchen aufgeschäumte Milch auf
den Tisch. Er setzte sich ans Kopfende und nippte an seiner
Tasse.
»Gute Frage.
Warum haben wir uns ewig nicht gesehen? Man verändert sich,
geht einen anderen Weg als der andere. Einer hat studiert, einer ist
ins Ausland gegangen, einer machte eine Lehre. Wie das so geht. Die
Schule ist irgendwann zu Ende, und dann war's das eben. Man wird
erwachsen.«
»Waren Sie gute
Freunde?«
»Ja, ich glaube
schon. Wir haben einiges miteinander erlebt.«
»Und da hat
niemand jemals den Wunsch verspürt, die Erinnerungen
aufzufrischen und sich mal wieder zu sehen?«
»Ich nicht.
Vosskamp habe ich mal getroffen beim Einkaufen. Der wohnte hier in
der Nähe. Da haben wir ein bisschen geplaudert. ›Hallo,
wie geht's?‹ und so. Dann stellt man schnell fest, dass man
sich eigentlich nichts mehr zu erzählen hat. Wie bei einem
Klassentreffen. Zwanzig- bis dreißigmal muss man sagen, was
man von Beruf ist, ob man verheiratet ist und Kinder hat. Und
danach fällt einem nichts mehr ein, was man noch erzählen
könnte …«
»Und jetzt sind
Vosskamp und Leuschen tot«, unterbrach sie ihn.
Gassmann senkte den
Kopf und kratzte sich über die unrasierte Wange. Sie fand den
Mann attraktiv, so wie er vor ihr stand. Solange Männer nicht
völlig nackt sind, können sie sogar allgemein
gültigen Maßstäben der Ästhetik standhalten,
dachte sie.
»Das ist sehr
traurig«, sagte er leise. »Wissen Sie schon irgendetwas
über den Mörder?«
»Wenig«,
gab sich Remmer offen. »Nicht genug.«
»Das ist
schlimm. Wer tut so etwas? Hatten die beiden noch
Kontakt?«
»Das ist das,
was uns stutzig macht. Es sieht nicht danach aus, als wenn Vosskamp
und Leuschen ihre Freundschaft weiter gepflegt hätten. Im
Gegenteil. Uns fehlt die Verbindung zwischen beiden. Wo haben Sie
die beiden kennen gelernt?«
Gassmann stützte
seinen Kopf auf beide Hände, schlug die Augen auf und tat, als
ob er eine weite Reise in die Vergangenheit antreten
musste.
»Es ist so lange
her«, stöhnte er. »Ich glaube, dass wir uns in
einer Disko getroffen haben. Durch Zufall. Da hat man ein bisschen
gequatscht, hat ein Bier zusammen getrunken und sich
fürs nächste Wochenende wieder
verabredet. So ging das ein paar Wochen, bevor man angefangen hat,
sich auch mal an anderen Tagen zu treffen. Wir haben uns gut
verstanden, waren auch mal zusammen Ski fahren.«
Remmer glaubte ihm
nicht. Das klang ein bisschen seltsam, so als ob er sich die kleine
Geschichte gerade im Moment ausgedacht hätte. Sie verzichtete
trotzdem auf eine Nachfrage.
»Was ist mit
dem?«, fragte sie stattdessen und zeigte auf den jungen
Höllerbach, der vor einem großen Glas mit irgendeinem
scheußlich bunten Longdrink neben Leuschen in die Kamera
lachte.
»Das ist
Michael«, antwortete Gassmann ohne langes Zögern.
»Der gute Michael Höllerbach. Unser Clown. Wir haben
viel über ihn gelacht. Er konnte sehr witzig sein. Ein guter
Kumpel, ein bisschen triebgesteuert, aber sonst sehr
nett.«
»Was heißt
das, ›triebgesteuert‹?«
»Der war
heiß auf jede Frau in seiner Umgebung. Ich weiß nicht,
wie viele Freundinnen der gehabt hat damals. Wir waren jedenfalls
ziemlich neidisch.«
Iris Remmer beugte
sich zu Ingo Gassmann, bevor sie die Fotos und die Kaffeetassen zur
Seite schob. Wie fühlte man sich, wenn man erfuhr, dass
ehemalige Freunde grausam ermordet worden waren? Sie war sich nicht
sicher, ob ihr Gegenüber ehrlich war. Vielleicht bedeutete ihm
der Tod von Vosskamp und Leuschen wirklich nicht viel. Von ihrem
Tod hatte Gassmann in der Zeitung erfahren, jetzt wollte Remmer
seine Reaktion auf eine neue Nachricht testen.
»Höllerbach
ist auch ermordet worden«, sagte sie langsam.
Gassmann schwieg.
Unter der Haut der Wangen sah man Muskeln zucken. Hatte sie ihn
überraschen, gar schockieren können? Der Mann im
Bademantel kniff die Augen zusammen, stand auf und ging zum
Fenster.
»Das ist
ungewöhnlich, oder?«, fragte Remmer, während sie
ihm auf die seltsam behaarten Beine starrte. Ingo Gassmann hatte
weiße Flecken auf den Waden, richtige Inseln, auf denen kein
Haar wuchs. Bademäntel müssten länger sein, dachte
sie. »Da sterben drei Männer in
kürzester Zeit hintereinander. Alle drei haben sich vor
zwanzig Jahren mal gut gekannt und sich danach nie wieder gesehen.
Dazu müsste Ihnen doch irgendwas einfallen,
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