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Marc Levy

Marc Levy

Titel: Marc Levy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Solange du da bist
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Ähnlichkeit war verblüffend. Die Schlafende war etwas blasser als ihre Doppelgängerin, die ihm zulächelte, aber ansonsten waren ihre Züge vollkommen identisch. Er wich einen Schritt zurück.
    »Das ist unmöglich, sind Sie ihre Zwillingsschwester?«
    »Sie sind wirklich ein hoffnungsloser Fall! Ich habe überhaupt keine Schwester. Ich bin es, die dort liegt, ich allein, machen Sie es mir doch nicht unnötig schwer und versuchen Sie, das Unmögliche anzunehmen. Es ist kein Trick, und Sie schlafen auch nicht. Arthur, ich habe niemanden außer Ihnen, Sie müssen mir glauben, Sie dürfen mich jetzt nicht im Stich lassen. Ich brauche Ihre Hilfe, Sie sind wirklich der einzige Mensch auf dieser Welt, mit dem ich in den letzten sechs Monaten sprechen konnte, der einzige, der meine Anwesenheit wahrnimmt und mich hört.«
    »Wieso gerade ich?«
    »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, all das ist so vollkommen unbegreiflich.«
    »>All das< ist ziemlich unheimlich.«
    »Glauben Sie denn, ich hätte keine Angst?«
    Angst hatte sie mehr als genug. Schließlich war es ihr eigener Körper, den sie da langsam eingehen sah wie welkes Gemüse, jeden Tag ein bisschen mehr, den sie da liegen sah mit einem Tropf zur künstlichen Ernährung und einem Blasenkatheter. Auf keine einzige der Fragen, die sie sich Tag für Tag stellte, seit der Unfall geschehen war, hatte sie eine Antwort. »Ich habe so viele Fragen, das können Sie sich gar nicht vorstellen.« Mit traurigem Gesicht erzählte sie ihm von ihren Zweifeln: Wie lange würde dieses Wunder noch dauern?
    Würde sie jemals wieder, und sei es nur für ein paar Tage, leben wie eine normale Frau, auf ihren beiden Füßen stehen, die Menschen, die sie liebte, in die Arme schließen? Wofür hatte sie all diese Jahre in ihr Medizinstudium investiert, wenn 46
    nun alles so endete? Wie viele Tage würde ihr Herz noch schlagen? Sie sah sich selbst sterben, und das jagte ihr eine namenlose Angst ein. »Ich bin ein lebendes Gespenst, Arthur.«
    Er wich ihrem Blick aus.
    »Um zu sterben, muß man erst einmal gehen, und Sie sind noch hier. Kommen Sie, wir fahren nach Hause, wir sind beide sehr müde. Ich bringe Sie jetzt zurück.«
    Mit einer tröstenden Gebärde legte er ihr den Arm um die Schulter und drückte sie an sich. Als er sich umdrehte, fand er sich der Krankenschwester gegenüber, die ihn erstaunt ansah.
    »Haben Sie einen Krampf?«
    »Nein, wieso?«
    »Ihr Arm ... er hängt so waagerecht in der Luft, und die Finger sind ganz verkrümmt.«
    Arthur ließ sofort Laurens Schulter los.
    »Sie können sie nicht sehen, nicht wahr?« fragte er die Schwester.
    »Wen kann ich nicht sehen?«
    »Ach, niemanden.«
    »Möchten Sie sich ausruhen, bevor Sie weiterfahren? Sie scheinen mir mit einemmal ein bisschen durcheinander zu sein...«
    Die Schwester versuchte ihn zu trösten, so etwas sei immer ein Schock, das sei normal, das ginge vorbei. Arthur antwortete langsam, als wären ihm die Worte entfallen, und er müsste sie eines nach dem anderen aus den Tiefen seines Gedächtnisses hervorholen: »Nein, es ist alles in Ordnung, ich gehe jetzt.«
    Besorgt fragte sie, ob er den Weg finden würde. Er fasste sich und beruhigte sie: der Ausgang sei am Ende des Flures.
    »Dann lasse ich Sie jetzt allein, ich habe im Zimmer nebenan noch etwas zu erledigen, die Laken wechseln, ein kleines Missgeschick.«
    Arthur verabschiedete sich und ging den Gang hinunter. Die 47
    Schwester sah, wie er den Arm wieder in die Horizontale brachte, und hörte ihn murmeln: »Ich glaube Ihnen, Lauren, ich glaube Ihnen.« Sie runzelte die Stirn und verschwand im Nebenzimmer.
    »Oje! Manche Leute nimmt so was wirklich ganz schön mit, das muß man sagen.« Die beiden betraten den Aufzug. Arthur schaute zu Boden. Schweigend fuhren sie hinunter und verließen das Krankenhaus. Nordwind fegte über die Bucht und brachte einen feinen, durchdringenden Regen mit, es war lausig kalt. Arthur schlug den Kragen seines Mantels hoch und hielt Lauren die Beifahrertür auf.
    »Wir schenken uns jetzt mal den >Durch-die-Wand-geh-Hokus-Pokus< und versuchen uns so fortzubewegen, wie es sich gehört, bitte!« Sie stieg in den Wagen und lächelte ihn an.
    Während der gesamten Rückfahrt sprach keiner der beiden ein Wort. Arthur konzentrierte sich auf den Weg, Lauren schaute den Wolken zu. Erst als sie vor dem Haus angekommen waren, begann sie zu sprechen, ohne den Blick vom Himmel zu wenden.
    »Ich habe die Nacht so sehr geliebt, ihre Stille, ihre

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