Marco Polo der Besessene 1
das bei ihren Worten in meinem ahnungslosen Kopf entstand. Nur schlenderten just in diesem Augenblick ein paar biedere, wie Kaufleute aussehende Männer in der Nähe vorüber, die entsetzt einen Schritt vor Doris zurückwichen und deren Bartstoppeln sich sträubten wie Igelstacheln, als sie hörten, wie ein so kleines Kind, noch dazu
ein kleines Mädchen, laut solche unanständigen Wörter von sich gab. Ubaldo trug den nunmehr zusammengeklaubten Fisch mit
beiden schmutzigen Händen haltend herzu und sagte zu mir: »Willst du mit uns zu Abend essen?« Dazu sollte es zwar nicht kommen, doch vergaßen er und ich im Laufe des Nachmittags unseren Streit und wurden Freunde.
Er wie ich waren damals vielleicht elf oder zwölf Jahre alt -und Doris zwei Jahre jünger. In den folgenden paar Jahren verbrachte ich den Großteil meiner Tage mit ihnen und dem Haufen von ständig wechselnden anderen Hafenrangen, die gleichsam ihr Gefolge bildeten. Dabei hätte ich in jenen Jahren ohne weiteres mit den wohlgenährten und adrett gekleideten Sprößlingen der lustrisimi Familien der Stadt verkehren können, wie den Balbi und den Cornari -und Zia Zulia schaute keine Mühe und keine Überredungskraft, mich dazu zu bewegen -, doch ich zog meine stinkenden, dafür aber um so lebhafteren Freunde vor. Ich bewunderte ihre schlagfertige und sarkastische Ausdruckweise und eignete sie mir an. Ich bewunderte ihre Unabhängigkeit und ihre fichevole Einstellung dem Leben gegenüber und setzte alles daran, es ihnen darin gleichzutun. Da ich diese Haltung auch nicht ablegte, wenn ich nach Hause oder sonstwohin ging, trug das nicht gerade dazu bei, mich bei den anderen Menschen in meinem Leben beliebt zu machen; doch das stand ja auch nicht zu erwarten.
Bei meinen nicht gerade häufigen Gastspielen in der Schule belegte ich Fra Varisto mit ein paar Spitznamen, die ich von Boldo gelernt hatte -»U bei di Koma« und »U Culiseo«, -, die begeistert von den anderen Schülern übernommen wurden. Der gute Mönch und Lehrer hatte anfangs nichts gegen diese Formlosigkeit einzuwenden, ja, machte sogar einen eher geschmeichelten Eindruck, bis ihm nachgerade aufging, dass wir ihn nicht mit der grandiosen alten Schönheit Roms -dem coliseo oder Kolosseum -verglichen, sondern unser Spiel mit dem Worte culo, Hintern, trieben und ihn praktisch ›Riesenarsch‹ nannten. Die Dienstboten daheim packte fast täglich das schiere Entsetzen. Einmal -ich hatte gerade etwas ausgefressen -belauschte ich ein Gespräch zwischen Zia Zulia und Maistro Attilio, dem Maggiordomo unseres Haushalts.
»Crispo!« hörte ich den alten Mann ausrufen. Das war seine etwas penible Art, einen Fluch auszustoßen, ohne die Wörter »per Cristo« tatsächlich auszusprechen; gleichwohl brachte er es immer fertig, damit zum Ausdruck zu bringen, wie sehr außer sich vor Empörung er war und wie entsetzt. »Weißt du, was das Luderchen jetzt wieder angestellt hat? Es hat den Ruderer einen schwarzen Haufen merda -Scheiße -genannt, und jetzt ist der arme Michiel in Tränen aufgelöst. Es zeugt von unverzeihlicher Grausamkeit, einem Sklaven gegenüber so zu sprechen und ihm unter die Nase zu reiben, daß er ein Sklave ist.«
»Ach, was soll ich nur machen, Attilio«, rief Zulia in klagendem Ton. »Ich kann den Jungen doch nicht prügeln, sonst verletz ich womöglich noch sein kostbares Selbst!«
Streng ließ der Oberste der Domestiken sich vernehmen: »Besser, er bezieht die Prügel jetzt und hier zu Hause, wo sonst kein Mensch es mitbekommt, als daß er als Erwachsener öffentlich am Schandpfahl ausgepeitscht wird.«
»Wenn ich ihn nur immer unter den Augen hätte...«, erklärte meine nena schniefend. »Ich kann schließlich nicht durch die ganze Stadt hinter ihm herjagen. Und seit er sich mit diesem popolàzo von Hafengesindel herumtreibt...«
»Es wird nicht lange dauern, und er wird es mit den bravi halten«, knurrte Attilio. »Ich warne dich, Weib: du läßt zu, daß aus diesem Jungen ein richtiger bimbo viziato wird.«
Ein bimbo viziato ist ein verwöhntes Herrensöhnchen, und genau das war ich. Die Beförderung vom bimbo zum bravo hätte mir sehr gefallen. Naiv, wie ich war, ging ich davon aus, daß bravi das wären, was ihr Name eigentlich erwarten läßt, brave Männer, doch genau das Gegenteil war gemeint.
Die lauernden bravi sind die modernen Vandalen Venedigs. Es handelt sich um junge Männer, zumeist aus guter Familie, die weder Moral besitzen noch irgendeiner nützlichen
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