Marco Polo der Besessene 2
tropischen Gewässern immer ein wenig mulmig zumute, weil selbst die Sonne sich sonderbar verhielt.
Der Sonnenuntergang vollzog sich hier nicht so, daß der Sonnenball sich jeden Abend sanft vom Himmel herabließ und hinter dem Meer verschwand - er stürzte vielmehr regelrecht in die Tiefe. Nie gab es einen flammenden Sonnenuntergang zu bewundern, nie kam es zu einer Dämmerung, um den Übergang vom Tag zur Nacht abzumildern. Eben noch herrschte strahlende Tageshelle, und kaum, daß man einmal blinzeln konnte, war man von dunkler Nacht umgeben. Überall von Venedig bis Khanbalik war ich an die langen Tage und kurzen Nächte des Sommers und umgekehrt die kurzen Tage und langen Nächte des Winters gewohnt gewesen. Doch in den Monaten, da wir durch die Tropen segelten, konnte ich keine jahreszeitliche Verlängerung oder Verkürzung von Tag oder Nacht feststellen. Der Kapitän bestätigte mir meine Beobachtung: Er sagte, der Unterschied zwischen dem längsten und kürzesten Tag im Jahr betrage nur Dreiviertel der Zeit, welche der Sand braucht, um durch ein Stundenglas zu rinnen.
Drei Monate nach unserem Auslaufen aus Quan-zho erreichten wir den südlichsten Punkt unserer Reise, den Archipel der Gewürzinseln, wo wir den Kurs ändern und von nun an nach Westen segeln wollten. Da wir jedoch zunächst Süßwasser übernehmen mußten, gingen wir vor einer Insel namens Groß-Jawa vor Anker. Von dem Augenblick, da wir sie am Horizont auftauchen sahen, bis wir sie einen guten halben Tag später erreichten, redeten wir Fahrgäste unter uns schon davon, dies müsse in der Tat ein über die Maßen vom Glück begünstigter Fleck Erde sein. Die Luft war lind und voll von den zu Kopf steigenden Blüten der Gewürze, daß uns fast schwindelig wurde; die Insel bot ein Bild von saftigen Grüntönen und Blumenfarben, und die See ringsum war von der weichen, durchsichtigen und leuchtenden Farbe milchgrüner Jade. Leider bestätigte sich unser erster Eindruck, ein wahrhaft paradiesisches Eiland gefunden zu haben, nicht.
Unsere Flotte ankerte vor der Mündung eines Jakarta genannten Flusses, auf der Reede eines Tanjung Priok genannten Hafens. Mein Vater und ich ließen uns mit einem der Wasserfaßboote an Land rudern. Dabei stellten wir fest, daß es sich bei dem sogenannten Seehafen nur um ein Dorf von zhugan-Hütten handelte, die auf hohen Stelzen errichtet waren, da das ganze Land ein einziger Sumpf war. Die größten Baulichkeiten der hiesigen Menschen waren ein paar langgestreckte Plattformen aus Rohr mit palmwedelgedeckten Hütten darauf, die jedoch keine Wände aufwiesen, aber bis an den Rand gefüllt waren mit Säcken voller Gewürze -Nüsse und Rinden, Schoten und Pulver -, die auf das nächste Kauffahrteischiff warteten. Was wir hinter der Ansiedlung von der Insel sehen konnten, war nur dichter Dschungel, der aus dem Morast herauswucherte. Die Lagerschuppen mit den Gewürzen darin verströmten ein Aroma, das den pestilenzialischen Gestank, der allen tropischen Dörfern eigen is t, überdeckte. Allerdings erfuhren wir, daß die Insel Groß-Jawa nur aus Höflichkeit zu den Gewürzinseln gerechnet wurde, denn hier gedieh nichts Wertvolleres als Pfeffer, und die besseren Produkte -Muskatnuß und Nelken, Muskatblüte, Sandelholz und so weiter -wuchsen auf weiter entfernten Inseln des Archipels und wurden hier nur gesammelt, weil sie hier für die Schiffe der Kaufleute bequem zu erreichen waren.
Auch daß Jawa kein paradiesisches Klima hat, erfuhren wir gleichfalls bald, denn kaum waren wir an Land, wurden wir von einem Gewitter durchnäßt. Regen falle auf dieser Insel an jedem dritten Tag, sagte man uns, und zwar für gewöhnlich in Form eines Gewitters, das -wie man uns nicht zu sagen brauchte einen an den Weltuntergang denken ließ. Wahrscheinlich hat Jawa nach unserer Abfahrt eine ungewöhnlich lange Zeit schönen Wetters erlebt, denn wir hatten nur schlechtes. Dieses erste Gewitter ging einfach Tag und Nacht weiter, wochenlang, wobei nur Donner und Blitz vorübergehend aussetzten, der Regen jedoch unablässig fiel und wir sein Ende in der Flußmündung vor Anker liegend abwarteten.
Unsere Kapitäne hatten vorgehabt, von hier aus durch eine Meeresenge weiter gen Westen vorzustoßen, die Sunda-Straße genannt wurde und Groß-Jawa von der nächsten, weiter westlich gelegenen Insel Klein-Jawa oder Sumatera trennte. Sie sagten, durch diese Meerenge gelange man am mühelosesten nach Indien, aber sie erklärten auch, schiffbar sei
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