Marco Polo der Besessene 2
›die größte‹ oder ›die hauptsächlichste‹. Woraus hervorgeht, daß sie die jüngst erloschene Chin-Dynastie ebenso übertreffen muß wie die Xia-Dynastie davor und alle davorliegenden Dynastien bis hinunter zum Beginn der Zivilisation in diesen Landen. Aus diesem Grunde stelle ich eine strahlende Geschichte zusammen, die von meinen Assistenten aufgeschrieben wird und die dazu dienensoll, daß künftige Generationen die Überlegenheit der Yuan-Dynastie fraglos anerkennen.«
»Hier wird ganz offensichtlich gewaltig viel geschrieben«, sagte ich und betrachtete all die gesenkten Köpfe und die rasch geführten Pinsel. »Aber wieso ist denn da soviel aufzuschreiben, wo die Yuan-Dynastie doch erst vier Jahre alt ist?«
»Ach, das Festhalten der gegenwärtigen Ereignisse ist nichts«, sagte er geringschätzig. »Die Schwierigkeit besteht darin, die bisherige Geschichte umzuschreiben.«
»Wie bitte? Aber wie denn das? Geschichte ist Geschichte, Minister. Geschichte ist das, was geschehen ist.«
»Durchaus nicht, Marco Polo. Geschichte ist das, woran man sich bei dem, was geschehen ist, erinnert.«
»Ich sehe da keinen Unterschied«, sagte ich. »Wenn es, sagenwir, in dem und dem Jahr zu einer verheerenden Überschwemmung des Gelben Flusses gekommen ist, wird man sich an diese Katastrophe und daran, wann es zu ihr kam, doch gewiß erinnern, gleichgültig, ob sie schriftlich festgehalten wurde oder nicht.«
»Ah, aber niemals alle Begleitumstände. Angenommen, der damalige Kaiser kam den Opfern der Überschwemmung sogleich zu Hilfe, rettete sie, brachte sie auf festen Grund, wies ihnen neues Land an und verhalf ihnen zu neuem Wohlstand. Bleiben diese wohltätigen Umstände als Teil einer Geschichte jener Regierung in den Archiven vermerkt, könnte es geschehen, daß die Yuan-Dynastie von heute im Vergleich damit schlecht abschneidet und es sich so darstellt, daß es ihr an Wohltätigkeit gebricht. Deshalb verändern wir die Geschichte ganz, ganz wenig, so daß aus ihr hervorgeht, der frühere Kaiser habe sich dem Leiden seines Volkes gegenüber verhärtet gezeigt.«
»Woraufhin dann die Yuan-Dynastie vergleichsweise gütig dasteht? Aber mal angenommen, Kubilai und seine Nachfolger erweisen sich bei solchen Gelegenheiten als wirklich hartherzig, was dann?«
»Dann müssen wir sie nochmals umschreiben, so daß die früheren Herrscher als noch hartherziger dastehen. Ich nehme an, Ihr begreift die überragende Bedeutung meiner Arbeit. Das ist keine Aufgabe für einen, der dumm und träge ist. Geschichte, das ist nicht das tägliche Festhalten der Ereignisse wie im Logbuch eines Schiffes. Geschichte, das ist ein fließender Prozeß, und die Arbeit eines Historikers ist nie abgeschlossen.«
Ich sagte: »Historische Ereignisse können unterschiedlich wiedergegeben werden, aber zeitgenössische? Im Jahre des Herrn eintausendundzweihundertundfünfundsiebzig traf Marco Polo in Khanbalik ein. Was mehr sollte über eine solche Nebensächlichkeit vermerkt werden?«
»Handelt es sich in der Tat um eine Nebensächlichkeit«, sagte der Minister lächelnd, »braucht es überhaupt nicht in den Annalen der Geschichte vermerkt zu werden. Gleichwohl könnte es sich später als bedeutsam erweisen. Infolgedessen mache ich eine Notiz über derlei Kleinigkeiten und warte ab, ob es später als etwas Begrüßenswertes oder Bedauerliches in die Archive aufgenommen werden soll.«
Er kehrte an seinen Schreibpult zurück, schlug eine Ledermappe auf und wühlte in den darin enthaltenen Papieren herum. Dann nahm er eines heraus und las vor:
»In der Stunde des Xu am sechsten Tag des siebten Monds im Jahr des Ebers, dem Jahr dreitausendneunhundertunddreiundsiebzig nach dem Han-Kalender, dem Jahre vier der Yuan-Dynastie, kehrten die beiden Fremden, Po-lo Ni-klo und Po-lo Mah-fyo, aus der im Westen gelegenen Stadt Wei-ni-si in die Stadt des Khan zurück und brachten mit sich einen dritten und jüngeren Po-lo Mah-ko. Es bleibt abzuwarten, ob Khanbalik durch die Anwesenheit dieses jungen Mannes gewinnt« -dabei warf er mir einen neckischen Blick zu, woraufhin ich wußte, daß er nicht mehr ablas -»oder ob er nur eine Plage ist, der sich vielbeschäftigten Beamten aufdrängt und sie in der Erledigung ihrer dringenden Aufgaben behindert.«
»Ich gehe ja schon«, erklärte ich lachend. »Nur noch eine letzte Frage, Minister. Wenn Ihr jetzt eine ganz neue Geschichte schreibt -kann nicht jemand anders die Eure völlig
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