Marcos und der Zauber des Augenblicks (German Edition)
vorbei sein sollte.
2
Meine Mutter hat mich verlassen,
und ich habe beschlossen, die Welt
zu verlassen
I ch ging zur Sprechanlage und sah auf dem Bildschirm einen etwa 25 -jährigen leger gekleideten Thailänder und einen holländisch wirkenden älteren Herrn um die siebzig in grauem Anzug. Obwohl beide genauso gut zwanzig respektive sechzig sein konnten. Ich war nie gut im Alterschätzen, dafür kann ich ganz gut Nationalitäten und Gefühle erraten. Was das Alter betrifft, lasse ich mich ganz leicht an der Nase herumführen. Wenn jemand sagt, er sei dreißig, und es wirkt einigermaßen plausibel, glaube ich ihm, selbst wenn derjenige tatsächlich schon auf die vierzig zugeht. Meine Mutter hat immer gesagt, das wahre Alter sitze im Bauch und im Kopf. Falten seien einzig ein Resultat von Sorgen und schlechter Ernährung. Ich hielt mich an ihre Devise, weshalb ich immer darauf geachtet habe, mir wenig Sorgen zu machen und viel zu essen.
Ich habe festgestellt, dass die Menschen sich gut fühlen, wenn sie mir ihr Alter nennen. Ich antworte ihnen immer: »Ich hätte dich jünger geschätzt.« Darauf fahren die Leute ab. Das und eine Bemerkung darüber, wie braun sie sind, macht sie glücklich. Sagt man zu jemandem: »Ich hätte dich jünger geschätzt, und du bist ganz schön braun«, kriegt der sich nicht mehr ein.
Ein seltsamer Fall ist in dieser Beziehung der inzwischen sechsjährige Sohn meines Cousins. Bittet man ihn, das Alter eines Menschen zu schätzen, der offenkundig über zwanzig ist, sieht er ihn lange an und antwortet dann: »Zehn Jahre.« Ob zwanzig, fünfzig oder siebzig, für dieses Kind sind alle immer zehn Jahre alt. Die zweistellige Zahl an sich bedeutet bereits, dass man ihm uralt vorkommt. Und letztlich hat er ja recht; in einem einstelligen Alter kommen zwei Ziffern dem Ende aller Tage gleich.
Wenn ich einen sehr alten Menschen sehe, denke ich immer: »Der ist bestimmt hundert Jahre alt«, weil ein dreistelliges Alter so ungefähr das Höchste ist, was sich jemand in zweistelligem Alter vorstellen kann. Wir verändern uns nicht sehr vom Kind zum Erwachsenen, wir bekommen nur eine Ziffer dazu.
Ich merkte, dass meine Füße kalt wurden. Trotzdem ging ich nicht ins Schlafzimmer zurück, um meine Hausschuhe zu holen; hat man einmal beschlossen, etwas Episches zu vollbringen, muss man konsequent bleiben. Was für ein armseliges Epos soll das sonst werden!
Ungeduldig wartete ich auf den Fahrstuhl. Das rote Licht blinkte, und ich musste wieder an die Hirsche mit den Adlerköpfen denken. Genauso hatten ihre Augen geblinkt. Ich war nervös. Behutsam berührte ich mein linkes Auge. Das mache ich immer, wenn ich nervös bin oder lüge. Seit ich das herausgefunden habe, vermeide ich es in der Öffentlichkeit.
Während ich wartete, fühlte ich mich sehr allein. Offen gestanden hätte ich nicht gedacht, dass ich diesen historischen Moment allein erleben würde. Ich glaube, wenn man einen grundlegenden Charakterzug ändern möchte, in meinem Fall das Schlafen, sollte man nicht allein sein. Man sollte jemanden an seiner Seite haben, der einem sagt: »Das wird klasse, heute ist dein großer Tag!« Ist das normalerweise nicht bei allen wichtigen Ereignissen im Leben so? Auf einer Hochzeit ist man umringt von Menschen, die solche Sätze äußern. Sogar wenn man eine Hypothek mit 35 -jähriger Laufzeit unterzeichnet, hat immer irgendjemand eine passende Ermunterung parat. Und wenn man vor einer Operation vom Krankenpfleger abgeholt wird, wünschen alle viel Glück.
Doch ich hatte in ebendiesem Augenblick niemanden. Ich bin immer ein Einzelgänger gewesen.
Aber eigentlich will ich euch ja etwas erzählen, was vor wenigen Stunden geschah. Ich weiß nicht, warum ich es immer noch nicht getan habe.
Oder doch, ich weiß es: Manchmal redet man eben um den heißen Brei herum, um nicht gleich auf den Punkt kommen zu müssen. Vor allem, wenn es etwas so Schmerzhaftes ist, dass es einen vollkommen in die Knie zwingt.
Gestern ist meine Mutter gestorben.
Es kam ein Anruf aus Boston, wo sie auf ihrer letzten Tournee war. Sie war eine bekannte Choreographin und hat immer mehr Zeit im Ausland als zu Hause verbracht. Mit ihren Kreationen lebte sie in ihren eigenen Welten, ganz für die Kunst … Wenn ich manchmal nicht verstand, warum sie so viel arbeitete, zitierte sie einen Satz von James Dean über die Schauspielerei: »Ich strebe nicht an, der Beste zu sein. Ich will nur so hoch fliegen, dass niemand an mich
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