Marcos und der Zauber des Augenblicks (German Edition)
Kinder für die Liebe, den Sex und das Leben erziehen. Niemals könnte ich ihr genug dafür danken. Sie war mutig. Es war ihr immer egal gewesen, was die Leute dachten. Es zählte nur, was sie als richtig empfand.
»Das finde ich gut«, sagte das Mädchen vom Theater. »Ich will auch nicht zu schlafen aufhören. Darf ich dein Bild sehen?«
Ich nickte. Sie holte es, nahm es mit zum Bett und sah mich an. Ich glaube, es enthielt den Sex meiner Mutter, den Sex von Dani und den Sex des Mädchens. Jeder auf seine Art entscheidend für mein Leben.
Ich wusste, dass ich Dani die Spritzen geben würde. Ich hatte einmal meine Gabe bei ihm angewendet und seine schmerzhafteste Erinnerung gesehen. Er wurde von seinem Vater geschlagen, doch das war nicht das Schlimmste. Das Schlimmste waren die Alpträume, die Dani jede Nacht von seinem Vater und den Schlägen hatte. Sein Vater war inzwischen tot, doch in Danis Träumen lebte er weiter und schlug ihn weiter. Deshalb sehnte sich Dani nach der Medizin. Er wollte ihn töten. Und ich würde Komplize dieses Traummords sein. Vielleicht würde es Dani auch helfen, jemand anderen zu finden und mich zu vergessen. Allerdings würde ich ihn damit verlieren, und ein Verlust war immer etwas Schreckliches, wie meine Mutter gesagt hätte, auch wenn ein Gefühl nicht auf Gegenseitigkeit beruhte.
»Es ist wunderschön«, sagte das Mädchen, immer noch in das Bild versunken. Ich lächelte. Ich weiß nicht, wie ich euch dieses Bild beschreiben soll. Es war abstrakt, doch wenn man es anblickte und sich hineinfühlte, war es gleichzeitig auch wieder sehr gegenständlich. Trifft das letztlich nicht auch auf den Sex zu?
Meine Mutter sagte immer, Sex sei ein Rätsel, eingehüllt in ein Geheimnis inmitten eines Mysteriums. Ich fand diese Definition grandios, und das sagte ich ihr, worauf sie lachte. Das sei eigentlich keine Definition von Sex, sagte sie, das habe Churchill über Russland gesagt. Wir hörten die ganze Nacht nicht mehr auf zu lachen, an welchem Ort auch immer es war.
Das Tagebuch verbrannten wir. Es hatte keinerlei Bedeutung mehr, zu wissen, wer mein Vater war. Das Feuer hingegen war notwendig, wir brauchten diese Hitze, es schuf die Atmosphäre für unsere nächste Handlung.
Ich reichte ihr den gefalteten Zettel. Sie sollte ihn zuerst öffnen und erfahren, was wir in einem anderen Leben, auf dem ersten Planeten füreinander gewesen waren.
Sie las es, dann gab sie ihn mir weiter, und ich las es ebenfalls.
Danach schwiegen wir eine lange Weile.
Irgendwann sagte ich schließlich zu ihr: »Was hätten wir alles sein können, wären wir nicht du und ich.« Sie nickte.
Fest umarmt, schliefen wir langsam ein. Ich glaube, es war das erste Mal, dass ich in einem fremden Bett gut schlief.
Das Wissen, einen winzigen Teil eines früheren Daseins zu leben, hat etwas Schönes, Besänftigendes.
Ich dachte an meine Mutter. Jetzt verstand ich meine Gefühle: Ich hatte den Menschen verloren, den ich und der mich mehr als alles andere auf der Welt liebte.
Es ist schwer, den Menschen zu verlieren, der einen mehr liebt als irgendjemand sonst.
Ich drückte meine Tochter an mich.
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