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Marcos und der Zauber des Augenblicks (German Edition)

Marcos und der Zauber des Augenblicks (German Edition)

Titel: Marcos und der Zauber des Augenblicks (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Espinosa
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Welt den Ungeduldigen gehören. Zumindest hoffe ich das.
    Die Türklingel ertönte erneut, drang in meinen Tiefschlaf ein. Ich erinnere mich, dass ich gerade von Hirschen mit Adlerköpfen träumte. Ich liebe es, im Traum alles zu vermischen, ein wenig Gott zu spielen. Neue Wesen zu schaffen, indem man vorhandene kombiniert, festzustellen, dass Freunde, die sich eigentlich nicht einmal kennen, plötzlich unzertrennlich sind, und ganz besonders aufregend finde ich es, wenn im Traum Menschen, die mir nie auch nur ansatzweise nahe waren, in enger Beziehung zu mir stehen. Manchmal denke ich, dass Träume eigentlich Vergewaltigungen sind; sie vergewaltigen die Intimsphäre anderer, rauben ihre Sprache, bemächtigen sich ihres Bildes, wie es ihnen gerade gefällt.
    Wie oft habe ich im Traum schon Sex mit jemandem gehabt und am nächsten Tag die betreffende Person nicht einmal zu grüßen gewagt, weil ich Angst hatte, das »Guten Tag« würde klingen wie: »Wow, was war das für eine Wahnsinnsnacht mit dir!«
    Vielleicht wäre die Welt besser, wenn wir unsere erotischen Träume denen erzählen würden, die eine entscheidende Rolle darin gespielt haben.
    Doch das wäre zu dieser Zeit undenkbar gewesen. Und nicht einmal ich selbst hätte mir je ausgemalt, dass ausgerechnet dieser Tag meine Welt und sicherlich auch die der anderen von Grund auf verändern würde. Vielleicht sollten solche Tage im Kalender rot angestrichen sein. Wir sollten vorher um die Momente wissen, die alles verändern, die für alle einen ähnlichen Einschnitt bedeuten, eine kollektive Erinnerung schaffen. Dann könnte man an einem solchen roten Tag immer entscheiden, ob es sich wirklich lohnt, aufzustehen.
    Mein Onkel hat den 11 . September 2001 mitverfolgt, er war damals zweiundzwanzig Jahre alt. Er sagt, das Wahnsinnigste sei gewesen, das zweite Flugzeug live in den Wolkenkratzer fliegen zu sehen. Seither stelle er sich immer wieder die Frage: »Hat das zweite Flugzeug vielleicht so lange mit der Kollision gewartet, bis die Fernsehstationen über das erste Flugzeug berichtet hatten? Oder sollten beide Flugzeuge eigentlich gleichzeitig in die Türme fliegen, und das zweite hat sich verspätet?« Das ging ihm nicht aus dem Kopf. Er hätte zu gern gewusst, ob die Urheber all dessen damit gerechnet hatten, dass die Leute weltweit ihre Fernseher anstellen und den zweiten Aufprall sehen würden, oder ob es ein makabrer Zufall war. Manchmal gab er sich selbst die Antwort: »Sollte Ersteres zutreffen, kennt die menschliche Bosheit keine Grenzen.« Und ich schwöre, dass dabei in seinen Augen eine unermessliche Traurigkeit lag.
    Doch ich will auf jenen Tag zurückkommen, auf den Tag, an dem die Sendung eintraf. Ich träumte also von Hirschen mit Adlerköpfen, und eines der Tiere fixierte mich gerade mit seinem Adlerblick und seinem Hirschgeweih, als wollte es sich gleich auf mich stürzen und mir mit seinen Hirsch-Adler-Klauen die Augen auskratzen … Doch eben da drang ein rotes Licht in den Traum, das in den Augen des Tieres blinkte und wie meine Türklingel klang. Ich brauchte fünfzehn Sekunden, um mir des Irrtums bewusst zu werden und aufzuwachen. Vielleicht auch weniger, ganz genau lässt sich das nicht sagen. Die Zeit im Traum ist so geheimnisvoll relativ.
    Doch ich glaube, diese fehlerhaften Schnitte haben etwas Gutes an sich. Auch wenn man manchmal weiterschläft, obwohl man den Fehler in der Sequenz wahrgenommen hat, weil man nicht aufwachen will. Was beweist, dass viele Menschen lieber träumen als leben, sogar in dem Wissen, dass sie sich in einer falschen Wirklichkeit bewegen.
    Zu denen gehöre ich nicht. Ich mag es nicht, zu merken, dass ich mich in einem Traum befinde. Die geringste Ahnung um den Bluff reißt mich aus dem Schlaf.
    Wieder das Klingeln, es drang diesmal jedoch in nichts mehr ein, da ich schon am Aufwachen war. Ich sah auf die Uhr: Drei Uhr morgens, exakt der Zeitpunkt, den sie angekündigt hatten.
    Ich stand auf, zog aber nicht meine Schlappen an. Es gibt Augenblicke im Leben, in denen man barfuß zur Tür gehen muss, um den Moment feierlicher zu machen.
    Und das musste dieser Moment wirklich sein, man brachte mir die Medizin, die meinem Schlaf ein Ende machen würde, dank der ich vierundzwanzig Stunden am Tag leben würde, ohne auszuruhen … Und wie es nicht anders sein durfte, unterbrach ihr Eintreffen eben dieses Ausruhen. Riss meine Vorstellungswelt mitten entzwei.
    Weil es von diesem Moment an schließlich für immer mit ihr

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