Marcos und der Zauber des Augenblicks (German Edition)
unentschlossen, ob ich den Zettel auseinanderfalten, mich auf sie stürzen und stürmisch küssen oder sie malen sollte. Ich entschied mich für Letzteres.
»Darf ich dich malen?«
Sie nickte. Ich holte die Farben hervor und begann mit dem herrlichen Ritual des Farbenmischens, das ich so lange vermisst hatte. Klecksen, um Schönes zu schaffen.
Sie setzte sich auf einen Stuhl und sah mich an.
»Meine Mutter hat mir einmal gesagt, um den Sex zu malen, müsste er in einer unwirklichen Sphäre bleiben. Man könne nur etwas malen, was man nicht unmittelbar besitzt, sagte sie.« Ich sah zu dem Mädchen. »Und irgendwie spüre ich, dass wir niemals Sex haben werden, ich weiß nicht, warum, aber vielleicht gibt uns der Zettel darauf eine Antwort.«
Sie blickte mich unverwandt an.
»Was möchtest du von mir wissen?«, fragte sie.
»Kannst du tanzen?«, fragte ich.
Sie nickte.
»Dann tanze für mich.«
Sie begann zu tanzen, wirklich zu tanzen. Ein Schauder durchlief meinen Körper. Ihr Tanz war von unsagbarer Schönheit, sinnlich und erotisch.
Sie tanzte zum Koffer, öffnete ihn sachte und holte nach und nach alles heraus, was sich darin befand.
Ich malte wie ein Besessener, als würde etwas Übermächtiges meinen Pinsel führen. Rot, Grün und Gelb vermischte sich mit Schwarz auf eine kraftvolle Weise, wie ich es nie für möglich gehalten hätte.
Sie zog die Jazz-Schallplatten hervor, die meine Mutter auf alle ihre Reisen mitgenommen hatte, ihr Album mit den Sprungfotos … Jahrelang hatte meine Mutter springende Menschen fotografiert. Sie sagte, Tanz und Sprünge ließen die Masken fallen, enthüllten das wahre Gesicht einer Person. Dieses Album musste zahllose Fotos enthalten, wie oft war allein ich für sie gesprungen!
Ihre Kleider. Ihr kleiner Kulturbeutel, der einen Teil ihrer Geheimnisse und ihr Parfum barg.
Die Bilder, meine beiden Bilder über Kindheit und Tod. Sie hatte sie zusammengerollt von Hotel zu Hotel mitgenommen, an jeden Ort, zu dem ihre Schöpfungen sie führten. Das berührte mich ganz besonders.
Und ihr Tagebuch. Ich wusste, dass es dort war, und ich wusste auch, dass ich auf irgendeiner Seite den Namen meines Vaters finden würde.
Zwei Geheimnisse würden sich mir in dieser Morgendämmerung enthüllen. Eines auf einem zerknitterten Papier, das aus der zweiten Schublade einer Kommode stammte und jetzt in meiner Hosentasche steckte. Das andere in dem Tagebuch, mit dem das Mädchen auf atemberaubende Weise für mich durchs Zimmer tanzte.
Ich malte und malte. Die Musik meiner Mutter umtönte uns, denn auch wenn nirgends eine Platte spielte, hörte ich sie.
Es war einfach unglaublich, die erschöpfendste und wahrhaftigste Erfahrung meines ganzen Lebens.
Dann war das Bild fertig. Das Bild vom ersehnten, aber nie erlebten Sex. Und meine Mutter war vielleicht inzwischen in einer anderen Welt, jedenfalls aber noch nicht bei mir.
Das Mädchen hörte auf zu tanzen und sank aufs Bett. Ich legte mich neben sie. Keiner von uns beiden sagte etwas. Wir atmeten zusammen, wie wir es im Theater getan hatten. Die letzten Worte aus Tod eines Handlungsreisenden klangen in mir wieder: »Wir sind frei, wir sind frei.« So fühlte ich mich neben ihr. Es war ein epischer Moment.
Da erinnerte ich mich an die Spritzen. Und ich fühlte, dass es der epische Moment war, den ich mir gewünscht hatte, um sie mir zu setzen. Ich holte sie hervor und zeigte sie ihr.
»Ich will sie mir nicht spritzen. Ich möchte nicht, dass dieses zweite Leben anders wird, als es geschaffen wurde. Vor allem aber will ich nicht aufhören zu schlafen, weil ich dich beim Aufwachen so lange wie irgend möglich an meiner Seite haben möchte. Ich möchte es mir nicht entgehen lassen, dich jeden Tag aufs Neue zum Leben erwachen zu sehen.«
Ich konnte mir nicht vorstellen, sie nicht aufwachen zu sehen. So viele Jahre hatte ich meine Mutter aufwachen sehen. Nach jener Nacht in dem Wolkenkratzerhotel liebte ich es, neben ihr zu schlafen. Ich mochte es, wie sie sanft ins Leben zurückkehrte. Sie blickte mich an, lächelte und sagte: »Ich wache auf, Marcos.« Dann küsste sie mich auf die Wange.
Ich glaube, insgeheim bin ich in meine Mutter verliebt gewesen.
Es war mir nie in den Sinn gekommen, aber im Grunde liebte ich sie. Und sie liebte mich. Es war die Art von Liebe, die sie immer verteidigte und die mit Sex nichts zu tun hatte.
Sie hatte mich zum Sex erzogen, doch entstand dadurch die Liebe zu ihr. Sie war der Meinung, man müsse
Weitere Kostenlose Bücher