Marcos und der Zauber des Augenblicks (German Edition)
das?«
»Wollen wir uns nicht setzen?«, fragte der ältere Herr freundlich.
Augenblicklich wusste ich, dass ich mich nicht setzen sollte, dass ich ihm nicht zuhören sollte, dass ich einfach nur die Spritze nehmen und sie ihre Funktion erfüllen lassen sollte. Aber der Mann hatte einen angenehmen Tonfall, er erinnerte mich an einen alten Priester, dem ich als kleiner Junge gebannt zugehört hatte, wenn er mir von Jesus erzählte. Ich hatte blind alles geglaubt, was er mir sagte, jedes Dogma und Wunder. Bis meine Großmutter im Sterben lag und ich ein Vaterunser, Ave-Maria und Glaubensbekenntnis ums andere betete. Meine Großmutter starb trotzdem, und ich entdeckte, dass der Priester mir eine absolut nutzlose Magie beigebracht hatte.
Ich setzte mich also neben den älteren Herrn. Er schob die Spritzen aus meinem Blickfeld, als wollte er, dass ich mich ganz auf seine Stimme, auf seinen Moment konzentrierte. Er kam mir vor wie ein Zauberer auf dem Jahrmarkt.
Manche Leute wissen eben, wann sie ihren großen Moment haben, und verstehen ihn zu nutzen. Wenn man einen Fischer nach einem Fisch ohne Gräten fragt, weiß er, dass das sein Auftritt ist. Ebenso ein Dermatologe, wenn man ihm besorgt ein dunkles Muttermal zeigt. Sogar die Putzfrau, die jeden Donnerstag mit mir schimpft, weil der Staub sich in den hintersten Ecken ansammelt, weiß, dass ich ihr zuhören muss.
»Wie heißt du, Junge?«
Während der alte Herr versuchte, mehr über mich zu erfahren, zündete der Jüngere sich eine Zigarette an und wandte sich dem Platz zu, gelangweilt von einer Unterhaltung, die er sicherlich schon etliche Male mit angehört hatte.
»Marcos«, antwortete ich höflich.
»Marcos, ich weiß, die Werbung für dieses Produkt besagt, dass man es, will man aufhören zu schlafen, einfach nur spritzen muss, worauf sich eine allmähliche Veränderung einstellt, die schließlich dazu führt, dass man 24 Stunden am Tag wach sein kann.«
»So heißt es, ja.«
»Gut, ich muss dich nun darauf hinweisen, dass das durchaus richtig, gleichzeitig aber auch … irreführend ist.« Er machte eine dramatische Pause.
Ich beschloss, eine Zigarette rauchen zu wollen. Ich bat den Jüngeren um eine. Seit Jahren sind die Zigaretten nicht mehr, was sie einmal waren. Mein Onkel, der ein starker Raucher war, hat aufgehört, als meine Großmutter an Krebs starb. Dann waren es die Zigaretten, die sich von den Menschen verabschiedeten. Sie wurden nikotinfrei gemacht, und inzwischen sind sie so etwas wie qualmende Bonbons. Die ältere Generation verabscheut sie, aber unsere, die immerhin noch Klassiker mit Humphrey Bogart im Fernsehen entdeckt hat, steckt sich im Gedenken an unsere Schwarzweißhelden ab und zu eine Zigarette an.
»Was meinen Sie damit?« Ich atmete allen Rauch mit dem Ende der Frage aus.
»Du wirst nicht mehr schlafen, wenn du dir das Produkt gespritzt hast, dein Körper regeneriert sich mittels Bewegung. Es ist aber überaus wichtig, dass du begreifst, was das bedeutet. Wie bei allem im Leben muss erst dein Kopf die Veränderung akzeptieren, verstanden?«
Ich war nie ein Freund von Demagogie und diesem herablassenden »verstanden«. Ich ertrage es nicht, herablassend behandelt zu werden. Und erst recht nicht von einem Typen mit so einem Beruf.
Er ahnte gar nicht, wie ungemein es mich störte, dass er die Gründe bezweifelte, aus denen ich das hier machen wollte, was die Veränderungen, die es mit sich bringen würde, für mich bedeuten würden. Wirklich wütend machte mich aber vor allem, dass so verdammt simpel war, was er mir sagte.
»Fragen Sie mich, ob ich weiß, was ich im Begriff bin zu tun?«
»So ungefähr, ja.« Er sah mir wieder eindringlich in die Augen.
»Natürlich weiß ich das, ich werde zu schlafen aufhören. Und genau das will ich. Ist das alles?«, entgegnete ich schroff.
In seinem Blick lag jetzt Geringschätzung. Fraglos hasste er es, in seinem großen Moment gehetzt zu werden. Ihm war die wahre Schlichtheit unerträglich, mir die falsche Komplexität.
»Das ist alles«, sagte er. »Wir müssen sichergehen, dass der Verbraucher begreift, was er tut. Haben Sie das Geld?«
Sein Tonfall veränderte sich, als er den finanziellen Aspekt erwähnte. Er war jetzt nicht mehr sanft, sondern barsch. Er musterte mich auch nicht mehr aufmerksam, sein Interesse an mir war offensichtlich erloschen.
Ich holte das Geld. In bar. Sie lassen sich immer in bar bezahlen, weil die Leute anfangs, hatten sie die Spritze erst einmal
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