Marcos und der Zauber des Augenblicks (German Edition)
intus, Scheck oder Überweisung annullierten und auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Und selbst wenn es ihnen gelang, sie aufzuspüren, war es ja nicht mehr rückgängig zu machen. Aufhören zu schlafen ist wie unsterblich sein, niemand kann es einem mehr wegnehmen.
Deshalb ließen sie sich in bar bezahlen.
Ich hatte das Geld seit dem Vortag im Haus. Kaum hatte ich von dem Tod meiner Mutter erfahren, hob ich es ab. Unten in der Bank im Haus, ich musste dafür nicht einmal auf die Straße gehen.
Es war beinahe elf Uhr abends, als ich mir fast meine gesamten Ersparnisse auszahlen ließ. In der Wohnung wusste ich nicht, wohin damit. Wenige Stunden später würden sie mir die Spritzen bringen, aber ich hatte Angst, man könnte mich im Schlaf beklauen. Ich habe lange über ein geeignetes Versteck nachgedacht. Das ist nicht so leicht, denn man denkt nicht nur wie der, der das Geld versteckt, sondern auch wie der potentielle Dieb. Man glaubt, einen guten Ort gefunden zu haben, dann versetzt man sich in den Dieb und weiß, dass er eben dort als Erstes suchen würde.
Strümpfe, Schuhe, Schrankböden, hinter Möbeln, Fliesen, im Badezimmerschränkchen … Alles für einen Moment das ideale Versteck, im nächsten kinderleicht zu durchschauen.
Ich brauchte fast zwei Stunden, bis ich den richtigen Ort gefunden hatte. Auf den weder der Besitzer des Geldes noch der Dieb je gekommen wären. Der außerdem aber leicht wiederzufinden war. Oft schon habe ich Wertgegenstände so gut versteckt, dass ich sie nicht mehr wiedergefunden habe.
Ich ging zu meinem Kissen, nahm es aus dem Bezug, in dem der schmale Umschlag steckte, der meine gesamte Barschaft enthielt. Welche Ironie des Schicksals, das Kopfkissen barg den Schlüssel für meine endgültige Schlaflosigkeit.
Ich kehrte zur Terrasse zurück. Die beiden Männer unterhielten sich nicht, was mich auf den Gedanken brachte, dass sie sich nicht ausstehen konnten. Ich stellte mir vor, dass sie wegen einer finanziellen Angelegenheit zerstritten waren, weil sie grundverschieden waren, vielleicht sogar wegen einer Frau. Als ich dem Älteren das Geld reichte, gab er es sofort an den Jüngeren weiter, der sich ans Zählen machte. Nach dem ersten Zählen folgte ein zweites und dann noch ein drittes.
Keiner sprach ein Wort während dieser drei Prüfdurchgänge, wir sahen einander nicht an, die einzigen hörbaren Geräusche klangen vom Platz herauf. Die Geräusche derer, die es bereits geschafft hatten. Das Geld in lautstarker Bewegung.
»Stimmt«, sagte der Jüngere endlich, als hätte er nicht drei lange Male nachgezählt.
Der ältere Herr reichte mir die beiden Spritzen. Seine Hand war unangenehm kalt. Ich mag Menschen nicht, die keine Wärme im Körper haben.
»Viel Vergnügen damit«, sagte er ohne den geringsten freundlichen Unterton, damit ich bloß nicht auf die Idee käme, er könnte meinen, was er sagte.
»Danke. Sie finden doch nach draußen, nicht?«
Ich weiß, es war unhöflich, sie nicht zur Tür zu begleiten, aber mir war einfach nicht danach, den ganzen Weg zurückzugehen, auf den Fahrstuhl zu warten und mich erneut zu verabschieden.
Sie dankten es mir und zogen von dannen. Bestimmt mussten sie noch viele Leute aufwecken, die nicht mehr schlafen wollten.
Ich setzte mich auf den Stuhl, den der alte Herr nicht gewärmt hatte, und rauchte weiter meine Zigarette, sog mit aller Kraft das falsche Nikotin in meine sauberen Lungen.
Meine linke Hand hielt die beiden Spritzen fest umschlossen.
4
Ängste und ihre Folgen
W ir alle haben Angst. Zum Glück fragt uns fast nie jemand, wovor wir Angst haben. Ab und zu können die anderen es erahnen, erspüren, wenn sie am Flughafen neben uns stehen, in einer dunklen Straße, beim Einsteigen in einen Bus auf dem Weg in eine fremde Stadt … Und mit einem Mal merken sie, dass wir Flugangst haben, Angst im Dunkeln, Angst, beklaut zu werden, geliebt zu werden oder uns beim Sex hinzugeben.
Als ich an jenem Abend die Spritzen fest in der Hand hielt, hatte ich schreckliche Angst, zu verlieren. Meinen Traum zu verlieren, einfach nur einer von den vielen zu werden, die nicht mehr schliefen. Einer aus der Menge auf dem Platz da unten. Meine Mutter hat einmal gesagt: »Anders zu sein hängt nur davon ab, wie viele auf deiner Seite sind.«
Ich weiß nicht, ob die Worte des alten Herrn ihre Wirkung taten oder ob es einfach wie so oft im Leben war und ich kurz, ehe der ersehnte Moment eintrat, gar nicht mehr so sicher war, ob ich ihn
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