Marcos und der Zauber des Augenblicks (German Edition)
herankommt. Nicht, um etwas zu beweisen, ich will nur das erreichen, was man erreichen kann, wenn man sein ganzes Leben und all sein Sein einer einzigen Sache widmet.«
Genau das hat sie getan. Und gestern, als ich erfuhr, dass meine Mutter von mir gegangen ist, realisierte ich, dass ich ebenfalls die Welt verlassen würde.
Ich verlor den Glauben an die Welt, der etwas so Entscheidendes abhandengekommen war, ohne dass jemand etwas dagegen getan hätte; die Welt war nicht stehengeblieben, hatte keinerlei Entsetzen über den Verlust gezeigt.
Ich meine damit nicht, dass ich mich umbringen oder wirklich von der Welt verschwinden will. Aber etwas muss sich ändern, denn in der Welt, wie ich sie kannte, kann ich nicht so einfach weiterleben. Meine Mutter war fort, und der Schmerz erwies sich als unerträglich. Ich schwöre, dass ich noch nie etwas Vergleichbares empfunden habe.
Dabei ist es nicht der erste Todesfall, mit dem ich konfrontiert werde. Manchmal sind die ersten so eindrücklich, dass man glaubt, man kommt nicht darüber hinweg. Mir ging das mehrmals im Leben so. Meine Großmutter, die mich über alles liebte, starb vor drei Jahren, und auch das war ein Schlag. In ihren letzten Jahren erinnerte sie sich an fast nichts mehr, aber wenn sie mich sah, freute sie sich. So sehr, dass sie aufschrie vor Glück. Und ich fühlte mich so geliebt … Ich habe sehr um sie geweint.
Ich weiß noch, wie ich einmal auf Capri (ich liebe Inseln, wenn ich verreise, dann nur auf Inseln, je kleiner, desto besser; auf ihnen fühle ich mich erst richtig als Mensch) meine damalige Freundin mitten in der Nacht aufweckte, weil ich an meine Großmutter gedacht hatte und in Tränen aufgelöst war. Es war erst zwei Monate her, seit sie gestorben war. Besagte Freundin sah mich mit einer Zärtlichkeit an, wie ich ihr danach lange nicht mehr begegnet bin. Sie umarmte mich ganz fest (es war keine erotische, auch keine freundschaftliche, eher eine schmerzvolle Umarmung). Ich ließ mich drücken, ich war so niedergeschmettert, dass ich mich einfach nur fest von ihr drücken ließ. Eine absolute Ausnahme, normalerweise bin ich lieber der Umarmende als der Umarmte.
Sie umarmte mich jedenfalls ganz fest und flüsterte: »Es ist alles gut, Marcos, sie wusste, wie sehr du sie geliebt hast.« Das hat mich noch mehr zum Weinen gebracht.
Ich bin in Tränen ausgebrochen. Ich liebe diesen Ausdruck. Man sagt nicht, dass man zum Essen ausbricht oder zum Gehen ausbricht. Nein, man bricht nur in Tränen oder in Gelächter aus. Wahrscheinlich sind es solche Gefühlslagen wert, dass man ihretwegen bildlich zerspringt.
In jener Nacht auf Capri konnte ich nicht mehr einschlafen. Sie schon, sie schlief in meinen Armen ein, von meinen Armen umschlungen. Meine Tränen trockneten, und wenige Monate später war es mit unserer Beziehung vorbei. Ich dachte, am Tag unserer Trennung würde sie diese Episode erwähnen, den Moment, in dem sie mich umarmt und beruhigt hatte. Dann wäre ich sechs Monate länger mit ihr zusammengeblieben. Ich weiß, das klingt jetzt vielleicht kühl und berechnend. Eine Umarmung bei einem verzweifelten Tränenausbruch entspricht sechs Monaten liebloser Beziehung extra? Aber für mich entspricht es dem wirklich, ich habe es ausgerechnet. Nicht mathematisch, sondern emotionell. Wie dem auch sei, sie hat es nicht erwähnt, und ich war ihr dankbar.
Mir war immer, als hätte ich sie aus Dummheit verloren, auch wenn ich ihr das nie gesagt habe. Sie hat später auf Capri geheiratet, was ich als einen mir zugedachten Wink betrachtete, vielleicht war es aber auch nur Zufall.
Ich habe sie verloren, weil ich ihr nie gesagt habe, ich hätte noch niemals jemanden so geliebt wie sie. Es gibt viele Gedanken, die laut ausgesprochen so tiefe Geheimnisse enthüllen würden, dass wir nicht mit ihnen umgehen könnten.
Ich habe es noch nicht geschafft, jemandem zu gestehen, dass ich manchmal untröstlich um meine Großmutter weine. Ich weiß nicht, ob andere das verstehen könnten. Ich weiß nicht, ob andere überhaupt versuchen würden, es zu verstehen.
Von dem Tod meiner Mutter hatte ich noch niemandem erzählt. Ich konnte einfach nicht zum Telefon greifen. Alle verstehen, was sie gerade verstehen wollen, was sie interessiert.
Das klingt womöglich, als sei ich von der Gesellschaft enttäuscht, und genau das war ich zu diesem Zeitpunkt.
Der Aufzug öffnete sich in just dem Moment, als mein Schmerz unerträglich zu werden drohte. Der leger gekleidete
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