Marcos Verlangen
Geschichte?“, forschte er mit einem nachsichtigen Lächeln.
„Oh, vieles. Da ist ein Künstler, der wunderbare Bilder malt und selber im Hintergrund bleiben will – der keine einzige Gelegenheit nutzt, sich zu profilieren und in den Mittelpunkt zu stellen. Das ist doch schon mal sehr ungewöhnlich.“
Hier musste Marco ihr Recht geben. Das kam auch ihm eher selten unter.
„Es ist doch heutzutage schon eine echte Leistung, dass jemand so anonym bleiben kann, dass er völlig von der Bildfläche verschwindet, wenn er es möchte. Wie hat er das gemacht, ohne Spuren zu hinterlassen? Du kannst doch inzwischen jedermann googeln und findest sogar die Stecknadel im Heuhaufen, wenn du nur weißt, wie du es anstellen musst. Und dann ist da noch etwas…“ Sie hielt inne und machte eine vage Handbewegung, die ausdrücken sollte, dass sie selber nicht recht wusste, was das war. „Da ist etwas, das ich nicht greifen kann, das mich einfach nur antreibt, dem auf den Grund zu gehen. Als wäre da irgendein Geheimnis, das ich entdecken könnte.“ Sie lachte leise. „Na, ich weiß auch nicht. Aber dass das schon ein ziemlich großer Zufall ist, das musst du doch zugeben, oder?“
„Allerdings“, stimmte er wunschgemäß zu, „das ist wirklich mehr als bemerkenswert, aber du weißt ja, dass ich nicht an Zufälle glaube, oder?“
Sie nickte etwas geistesabwesend.
„Ja, ja, das weiß ich. Aber trotzdem könnte man bei so etwas abergläubisch werden. Stell dir doch nur mal vor, wenn dieser Typ tatsächlich mit Dante in Berührung gekommen sein sollte – dann könnte er uns vielleicht sogar sagen, wer er in Wahrheit ist. Und da das Semester erst im Herbst losgeht, hab ich mich einfach mal angemeldet.“
Sie grinste verschmitzt.
„Angemeldet?“, schmunzelte nun auch Marco. „So richtig offiziell? Wie die anderen auch?“
„Ja“, bestätigte sie, noch immer belustigt, „Tante hin, Dante her - ich tu einfach so, als wäre ich nur eine Teilnehmerin wie alle anderen auch.“
Neue Erfahrungen
Ella trat so leise wie möglich ein und schloss die Tür. Sie war zu spät, und sie hasste es, zu spät zu kommen.
„Falls du das Modell bist“, hörte sie eine ungehaltene Stimme durch den Raum schallen, „dann bist du eine Woche zu früh dran! Falls du Teilnehmerin bist, kommst du zu spät!“
Als ob sie das nicht selber wüsste. Das Gefühl, dass sich im Moment ihres Eintretens aller Augen auf sie richteten, verschaffte ihr ein leise nagendes Unbehagen. Zu allem Überfluss hatte sich dieser übellaunige Kerl vorne an der Tafel wohl auch noch vorgenommen, dieses Unbehagen kräftig zu steigern.
Ein schneller Blick in die Runde sagte ihr, dass sie Glück hatte, direkt neben der Tür war ein Platz frei und sie glitt erleichtert auf den Stuhl.
Zumindest hatte er sie nicht gesehen. Als sie eintrat, war er mit dem Rücken zu ihr damit beschäftigt, die Tafel zu säubern, mit der er auch geredet hatte, und er drehte sich erst um, als sie schon saß und hinter dem vor ihr sitzenden Kursteilnehmer verschwunden war.
„Sind jetzt endlich alle da?“
Er klang noch immer unwirsch. Undeutliches Gemurmel war die Antwort. Der Dozent nahm die Teilnehmerliste zur Hand und überprüfte den einzigen Namen, hinter den er ein Fragezeichen gesetzt hatte.
„Ella Ballarin?“
„Ja“, antwortete Ella halblaut, während sie in ihrer Tasche kramte. Als sie wieder aufsah, hatte er sich abgewandt und legte das Blatt beiseite. Bisher hatte sie ihn nur von hinten gesehen. Sie legte sich Papier und Stift zurecht und konzentrierte sich. Als er zu sprechen anfing, horchte sie auf. Er hatte eine äußerst angenehme Stimme: dunkel und samtweich und man merkte sofort, dass ihm das, was er erzählte, große Freude machte. Er begann mit den üblichen Begrüßungsfloskeln - namentliche Vorstellung, kurzer Abriss seines Werdegangs. Alle hörten aufmerksam zu.
„Also, ragazzi, dann lasst uns mal anfangen. Ich bin Angelo Dorsini und die nächsten zwei, oder je nachdem auch vier Wochen werde ich euch wahrscheinlich manchmal nerven, aber ich hoffe doch, dass euch dieser Kurs in erster Linie viel Freude und Abwechslung bringen wird…!“
Während er sprach, hatte Ella Gelegenheit, ihn genau zu mustern. Er war jung, höchstens in ihrem eigenen Alter. Schlank, nicht besonders groß, mit sanften, fast schüchternen braunen Augen und ebenso braunen halblangen Locken. Die spürbar üble Laune schien so gar nicht zu seiner sanften,
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