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Margaret Mitchell

Margaret Mitchell

Titel: Margaret Mitchell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vom Winde verweht
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Und die Zeit verrann.
    Sie
überlegte sich alles, was sie ihm während dieser Woche hatte sagen wollen. Sie
wußte, daß sie wohl nie wieder die Möglichkeit finden würde, es ihm zu sagen.
Sogar die wenigen Minuten, die übrigblieben, konnten ihr noch genommen werden,
wenn Melanie ihm bis an die Tür oder gar bis auf die Straße das Geleit gab.
Nicht ein einziges Mal in diesen Tagen hatte er Scarlett durch einen Blick oder
ein Wort mehr verraten als die liebevolle Zuneigung, die ein Bruder seiner
Schwester erweist. Sie konnte ihn nicht fortgehen lassen, womöglich für immer,
ohne daß er ihr seine Liebe gestand. Tat er das aber, dann würde sie, auch wenn
er nicht wiederkam, einen Trost bis an das Ende ihrer Tage haben.
    Nach einer
Ewigkeit des Wartens hörte sie ihn die Treppe herunterkommen. Allein! Gott sei
bedankt! Melanie war gewiß zu überwältigt von ihrem Abschiedsschmerz, um ihr
Zimmer zu verlassen. Nun hatte sie ihn ein paar köstliche Augenblicke für sich.
Langsam kam er mit seinen klirrenden Sporen herunter, sein Degen klappte leise
gegen die hohen Stiefel. Als er ins Wohnzimmer trat, blickten seine Augen
trübe. Er versuchte zu lächeln, aber sein Gesicht war bleich und verfallen wie
das eines Kranken, der an einer inneren Wunde verblutet. Sie stand auf, als er
eintrat, und dachte voller Stolz, er sei der schönste Soldat, den sie je
erblickt habe. Der neue Waffenrock saß nicht gut. Der Schneider hatte sich zu
sehr beeilt, einige Nähte waren ihm schief geraten, und der Glanz des neuen
Tuches stach traurig von den abgetragenen braunen Hosen und den verschrammten
Stiefeln ab. Aber wäre er in eine silberne Rüstung gekleidet gewesen, sie härte
ihn nicht schöner finden können als jetzt.
    »Ashley«,
bat sie unvermittelt, »darf ich dich an den Zug bringen?«
    »Bitte
nicht, Vater und die Mädchen sind da, und in der Erinnerung wird mir dein
Abschied hier drinnen lieber sein als ein fröstelndes Herumstehen auf dem
Bahnhof. Es hängt soviel an Erinnerungen.«
    Sofort gab
sie ihren Wunsch auf. Wenn India und Honey auf dem Bahnhof von ihm Abschied
nahmen, konnte sie auch dort kein Wort mit ihm allein sprechen. »Dann komme ich
nicht mit«, sagte sie. »Sieh, Ashley, ich habe noch ein Geschenk für dich.«
    Schüchtern
wickelte sie ihr Paket aus. Es war eine lange gelbseidene Schärpe aus dicker,
chinesischer Seide mit schweren Fransen daran. Rhett Butler hatte ihr vor
einigen Monaten einen gelben Schal aus Havanna mitgebracht, auf den prachtvolle
bunte Vögel und Blumen gestickt waren. Während dieser Tage nun hatte sie
geduldig die ganze kunstvolle Stickerei aufgetrennt und herausgezupft, das
Seidenstück zerschnitten und in einer langen Schärpe zusammengenäht.
    »Scarlett,
wie herrlich! Hast du es selber gemacht? Dann ist es mir um so teurer. Binde es
mir um, liebes Kind. Die Kameraden werden grün vor Neid sein, wenn sie mich in
der Pracht meines neuen Rockes und der Schärpe sehen.«
    Sie legte
ihm die Schärpe um die schlanken Hüften oberhalb des Gürtels und verschlang die
Enden zu einem Liebesknoten. Melanie hatte ihm wohl den neuen Rock geschenkt,
die Schärpe aber war ihr, Scarletts, heimliches Liebeszeichen, das er in der
Schlacht tragen und bei dem er sich zu jeder Stunde ihrer entsinnen sollte. Sie
trat zurück und betrachtete ihn stolz. Ihr schien, selbst Jeb Stuart mit seiner
wehenden Schärpe und seiner stolzen Feder könnte nicht so herrlich aussehen wie
Ashley.
    »Wunderschön
ist sie«, wiederholte er und ließ die Fransen durch seine Finger gleiten. »Aber
du hast sicher ein Kleid oder einen Schal dafür zerschnitten. Das hättest du
nicht tun sollen, Scarlett, es ist heute so schwer, etwas Hübsches zu
bekommen.«
    »Ach,
Ashley, ich hätte ... «
    Sie wollte
sagen: ich hätte mir das Herz aus der Brust geschnitten, damit du es trügest.
Aber sie endete: »... ich hätte alles für dich getan!«
    »Wirklich?«
fragte er, und sein Gesicht erhellte sich. »Aber da ist etwas, Scarlett, was du
für mich tun kannst, wenn du mir das Herz erleichtern willst.«
    »Was?« fragte sie freudig und war
bereit, Wunder für ihn zu verrichten. »Scarlett, willst du statt meiner für
Melanie sorgen?«
    »Für Melanie sorgen?«
    Tiefe
Enttäuschung fiel ihr schwer aufs Herz. Das also war seine letzte, seine
einzige Bitte an siel In ihr flammte der Zorn auf. Selbst in diesem kurzen
Augenblick, den Ashley ihr allein gehörte, stand Melanie wie ein bleicher
Schatten zwischen ihnen. Er sah ihre

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