Margaret Mitchell
lesen. Er beugte sich nieder, nahm ihr Gesicht in beide Hände und
küßte sie auf die Stirn.
»Scarlett,
Scarlett! Du bist so lieb, so stark und gut. Und schön bist du, nicht nur dein
liebes Gesicht, Kind, sondern dein Körper, deine Seele und dein Geist.«
»Ach,
Ashley«, flüsterte sie glücklich. Seine Worte und die Berührung seiner Lippen
gingen ihr mitten durchs Herz.
»Ich denke
gern daran, daß ich dich vielleicht besser kenne als die meisten anderen und
daß ich das Schöne sehe, das tief in dir verborgen liegt ... «
Er hielt
inne und ließ ihr Gesicht aus seinen Händen gleiten, aber seine Augen hingen
noch an den ihren. Sie wartete noch einen Augenblick, atemlos, ob er wohl
fortfahre. Ihr ganzes Ich stand auf den Zehenspitzen und lauschte, ob er die
drei Zauberworte ausspreche. Sie kamen nicht. Inbrünstig forschte sie in seinem
Gesicht. Ihr bebten die Lippen, als sie sah, daß er schon zu Ende gesprochen
hatte. Als da ihre Hoffnungen zum zweitenmal zerstört waren, ertrug ihr Herz es
nicht länger, und unter heißen schmerzenden Tränen setzte sie sich nieder. Da
hörte sie aus der Einfahrt vor dem Fenster das bedrohliche Geräusch, das den
unaufschiebbaren Abschied ankündigte. Onkel Peter holte den Wagen heraus, der
Ashley zum Bahnhof fahren sollte.
Ashley
sagte ganz leise »Lebe wohl«, nahm den breiten Filzhut, den sie Rhett
abgeschmeichelt hatte, vom Tisch und ging in den dunklen Flur hinaus. Als seine
Hand schon auf der Türklinke lag, drehte er sich um und sah sie an, als wollte
er mit einem einzigen, langen, verzweifelten Blick jede Einzelheit ihres
Gesichts und ihrer Gestalt mitnehmen. Durch den Nebel ihrer Tränen sah sie ihn
und begriff, daß er fortging, vielleicht für immer, und ohne die Worte
gesprochen zu haben, die zu hören sie so sehnlich begehrte. Die Zeit verrann
wie ein Mühlbach. Stolpernd lief sie durch das Wohnzimmer in den Flur hinaus
und bekam noch das Ende seiner Schärpe zu fassen.
»Küß
mich«, flüsterte sie, »küß mich zum Abschied.«
Sanft
legte er die Anne um sie und neigte den Kopf zu ihrem Gesicht hinab. Kaum
berührten seine Lippen die ihren, da flogen ihre Arme um seinen Hals, als
wollte sie ihn ersticken. Einen flüchtigen unbeschreiblichen Augenblick lang
drückte er ihren Körper fest an sich, dann fühlte sie plötzlich, wie alle seine
Muskeln sich strafften. Er ließ den Hut zu Boden fallen und löste ihre Arme von
seinem Halse.
»Nicht,
Scarlett, nicht«, sagte er und hielt ihre beiden gekreuzten Handgelenke so
fest, daß es sie schmerzte.
»Ich liebe
dich«, sagte sie mit erstickter Stimme, »ich habe dich immer geliebt und
niemals einen andern. Charlie habe ich nur geheiratet, um dich zu kränken. Ach,
Ashley, ich liebe dich so sehr. Ich könnte zu Fuß nach Virginia laufen, um bei
dir zu bleiben. Da wollte ich für dich kochen und dir die Stiefel putzen und
dein Pferd warten ... Ashley, sag, daß du mich liebst - damit will ich mich den
Rest meines Lebens trösten.«
Plötzlich
bückte er sich, um seinen Hut aufzuheben, und sie tat einen einzigen Blick in
sein Gesicht. Es war das unseligste Antlitz, das sie je in ihrem Leben
erblicken sollte. Ein Antlitz, dem alle Beherrschung verlorengegangen war.
Seine Liebe zu ihr stand darin geschrieben und die Freude darüber, daß sie ihn
liebte, doch im Kampf damit waren Scham und Verzweiflung.
»Leb
wohl«, sagte er heiser.
Knackend
öffnete sich die Tür, ein kalter Luftzug fegte durchs Haus, daß die Vorhänge
wehten. Scarlett zitterte, als sie ihn den Weg zum Wagen hinunterstürzen sah,
der Säbel schimmerte in der schwachen Wintersonne, lustig tanzten die Fransen
der Schärpe.
16
Die Monate
Januar und Februar des Jahres 1864 gingen vorüber, durchpeitscht von kaltem
Regen und wildem Sturm, bewölkt von alles umhüllender Finsternis und Trauer. Zu
den Niederlagen bei Gettysburg und Vicksburg kam noch, daß die Front der
Konföderierten in der Mitte eingedrückt war. Nach harten Kämpfen hatten die
Truppen der Union letzt fast ganz Tennessee besetzt. Aber auch dieser Verlust
nach so vielen anderen konnte den Geist des Südens noch nicht brechen. An die
Stelle stolzer Hoffnung war finstere Entschlossenheit getreten. Immer noch
hatte der Horizont einen Silberstreifen. Wenigstens waren die Yankees im
September, als sie versucht hatten, ihre Siege in Tennessee durch einen Vorstoß
nach Georgia hinein weiter auszubauen, energisch zurückgeschlagen worden. Hier
in der äußersten Nordwestecke
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