Margaret Mitchell
sie
noch zweimal. »Wie geht es Melanie?«
»Gut.«
Seine
Augen schauten gleich denen Ashleys wie durch sie hindurch in etwas
Jenseitiges. Es waren unerreichbare, ferne graue Augen, die in eine andere Welt
blickten. »Ich hätte gern mein erstes Enkelkind gesehen. Leben Sie wohl, Kind.«
Er schwang
sich auf Nellies Rücken und entfernte sich in leichtem Galopp, den Hut in der
Hand, das unbedeckte Silberhaar dem Regen preisgegeben. Scarlett war schon
wieder bei Maybelle und Mrs. Meade, als seine letzten Worte ihr in ihrer ganzen
Schwere aufgingen. Da bekreuzigte sie sich in abergläubischer Furcht und
versuchte, ein Gebet zu sprechen. Wie Ashley hatte er vom Tod gesprochen, und
Ashley war jetzt ... Nie sollte jemand vom Tode sprechen! Das hieß die
Vorsehung herausfordern. Als die drei Frauen schweigend durch den Regen ins
Lazarett zurückkehrten, betete Scarlett: »Nicht auch noch ihn, o Gott, nicht
ihn und Ashley!«
Der Rückzug
von Dalton nach Kennesaw Mountain hatte von Anfang Mai bis Mitte Juni gedauert,
und als die heißen Regentage des Juni vorüber waren und Sherman die
Konföderierten noch immer nicht aus ihren steilen, schlüpfrigen Hängen hatte
vertreiben können, erhob die Hoffnung von neuem ihr Haupt. Man war wieder
zuversichtlicher und sprach freundlicher vom alten Joe, und als aus dem nassen
Juni ein noch nasserer Juli wurde und die Konföderierten in verzweifeltem Kampf
um ihre befestigten Höhen Sherman noch immer in Schach hielten, ergriff eine
wilde Fröhlichkeit die Stadt. Die Hoffnung stieg den Leuten wie Sekt zu Kopf.
Eine wahre Seuche von Gesellschaften und Vergnügungen brach aus. Für jeden
Soldaten, der für einen Abend nach Hause kam, wurden Essen gegeben und Bälle
veranstaltet, und die Mädchen, von denen zehn auf einen Mann kamen, machten
viel Aufhebens um ihn und stritten sich, mit ihm zu tanzen.
Atlanta
war überfüllt von Besuchern, von Flüchtlingen, von Angehörigen der Verwundeten
in den Lazaretten, von Frauen und Müttern derer, die draußen in den Bergen
standen: sie wollten für den Fall einer Verwundung ihres Gatten oder Sohnes in
seiner Nähe sein. Dazu kamen in Scharen all die jungen Töchter von den
Plantagen, wo die noch vorhandenen Männer entweder über sechzig oder unter
sechzehn Jahren zählten, in die Stadt herein. Tante Pitty mißbilligte das sehr.
Sie war überzeugt, sie alle seien einzig und allein nach Atlanta gekommen, um
einen Mann zum Heiraten zu erwischen, und fragte sich angesichts solcher
Schamlosigkeit, was aus alledem noch werden sollte. Auch Scarlett war damit
nicht einverstanden. Ihr lag nichts an dem lebhaften Wettbewerb jener
Sechzehnjährigen, über deren frische, strahlende Gesichter man die zwiefach
gewendeten Kleider und die geflickten Schuhe vergaß. Ihre eigenen Kleider waren
hübscher und neuer als die der anderen, dank den Stoffen, die Rhett Butler
wieder einmal mitgebracht hatte. Aber sie war immerhin neunzehn Jahre alt. Die
Männer rissen sich um die blutjungen Dinger. Eine Witwe mit einem Kind war
gegen diese Mädel im Nachteil. Aber doch lasteten Witwentum und Mutterschaft
jetzt weniger schwer auf ihr als sonst. Zwischen den Lazarettpflichten am Tage
und den Gesellschaften in der Nacht bekam sie Wade kaum zu Gesicht. Manchmal vergaß
sie ganz, daß sie ein Kind hatte.
In den
warmen, feuchten Sommernächten standen alle Häuser in Atlanta den Verteidigern
der Stadt weit offen. Von der Washingtonstraße bis zur Pfirsichstraße
erstrahlten sie alle im Lichterglanz, wenn die schmutzigen Kämpfer aus den
Schützengräben bewirtet wurden, und der Klang der Banjos und Geigen, das
Schurren tanzender Füße und das helle Gelächter schollen weithin durch die
Nachtluft. Gruppen standen am Flügel und sangen mit Inbrunst die traurigen
Verse: »Wohl kam dein Brief, doch ach, er kam zu spät«, während ein
abgerissener Galan das Mädchen, das ihm hinterm Truthahnfächer zulachte,
bedeutsam ansah und bat, es möge nicht warten, bis es zu spät sei. Soweit es
auf die Mädchen ankam, wartete keines. Auf dem Strom überspannter Fröhlichkeit
und Erregung, der die Stadt durchflutete, trieben sie in die Ehe. In den
Monaten, die Johnston den Feind bei Kennesaw Mountain festhielt, fanden viele
Hochzeiten statt, bei denen der einzige Schmuck der Braut ihr errötendes Glück
und der rasch zusammengeborgte Staat von einem Dutzend Freundinnen war und der
des Bräutigams nur aus dem Säbel bestand, der ihm gegen die ausgeflickten Knie
klapperte. Ach, all
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