Margaret Mitchell
zu belustigen, als lägen keine Yankees zweiundzwanzig Meilen vor der
Stadt. Dennoch lauschte jedermann auf den Klang. Die ganze Stadt mutete an, als
wäre sie nie recht bei der Sache, denn womit auch die Hand beschäftigt sein
mochte, das Ohr horchte, und das Herz stockte wohl hundertmal am Tag. Ob
General Johnston dieses Mal standhielt? Die scheinbare Ruhe verhüllte kaum noch
die drohende Panik. Alle Nerven waren zum Zerreißen angespannt. Von Furcht
sprach niemand. Dies Thema war verpönt. Aber die Aufregung machte sich in
unverhohlener Kritik an dem General Luft. Die Stimmung in der Öffentlichkeit
fieberte heiß. Sherman stand unmittelbar vor den Toren Atlantas.
Gebt uns
einen General, der nicht zurückweicht! Gebt uns einen, der standhält und
kämpft!
Unter dem
fernen Grollen der Kanonen verließen der Landsturm des Staates, »Joe Browns
Schoßkinder«, und die Landwehr die Stadt, um in Johnstons Rücken die Fähren und
Brücken über den Chattahoocheefluß zu verteidigen. Es war ein grauer, bewölkter
Tag, und als sie durch Five Points und die Straße nach Marietta hinauszogen,
begann ein feiner Regen zu fallen. Die ganze Stadt war auf den Beinen, um ihnen
das Geleit zu geben. Dichtgedrängt standen die Leute unter den hölzernen
Sonnendächern der Kaufhäuser in der Pfirsichstraße und versuchten, ihnen zuzujubeln.
Scarlett
und Maybelle Merriwether-Picard hatten Erlaubnis bekommen, das Lazarett zu
verlassen und die Leute abmarschieren zu sehen, weil Onkel Henry Hamilton und
Großpapa Merriwether bei der Landwehr waren. Sie standen mit Mrs. Meade im
Gedränge und hoben sich auf die Zehenspitzen, um besser zu sehen. Obwohl
Scarlett von dem allgemeinen Wunsch des Südens beseelt war, nur das
Erfreulichste und Beruhigendste vom Kriege zu hören und zu glauben, wurde ihr
doch heiß und kalt, als sie die buntscheckigen Reihen an sich vorbeiziehen sah.
Die Sache mußte schon verzweifelt stehen, wenn dieses Durcheinander von Greisen
und Knaben wirklich in den Kampf sollte! Freilich waren auch junge, kräftige
Männer darunter, die sich in der schmucken Uniform gesellschaftlich exklusiver Truppenteile
mit wehenden Federn und tanzenden Schärpen gefielen. Aber doch zog sich
Scarlett das Herz vor Mitleid und Schreck zusammen. Graubärte, die noch älter
waren als ihr Vater, versuchten in dem feinen Regen zum Takt der Trommeln und
Pfeifen festen Tritt zu halten. Großpapa Merriwether hatte sich Mrs.
Merriwethers bestes Plaid um die Schultern geschlagen und ging in der
vordersten Reihe. Er grüßte die Mädchen mit einem Lächeln, und sie winkten mit
den Taschentüchern und riefen ein herzliches Lebewohl. Aber Maybelle packte
Scarlett beim Arm und flüsterte: »Ach Gott, der Alte! Ein tüchtiger Regenguß,
und er ist erledigt. Sein Rheuma!«
Onkel
Henry Hamilton marschierte in der nächsten Reihe, den Kragen seines langen,
schwarzen Mantels bis über die Ohren hinaufgeschlagen, zwei Pistolen aus dem
letzten mexikanischen Krieg am Gürtel und eine kleine Reisetasche in der Hand.
Neben ihm schritt sein fast ebenso alter schwarzer Diener und hielt einen
geöffneten Regenschirm über sie beide. Schulter an Schulter mit den Alten kamen
Knaben, von denen keiner älter als sechzehn aussah. Viele davon waren aus der
Schule weggelaufen, um ins Heer einzutreten. Hier und dort trug ein Trupp die
Kadettenuniform der Militärakademie, die schwarze Hahnenfeder schlaff an den
nassen grauen Mützen, die sauberen weißen Leinenstreifen über der Brust
durchnäßt. Unter ihnen befand sich auch Phil Meade, der stolz den Säbel und die
Sattelpistole seines gefallenen Bruders trug und den Hut an einer Seite kühn
aufgeschlagen hatte. Seiner Mutter gelang es, zu lächeln und zu winken, bis er
vorbei war, dann legte sie den Kopf einen Augenblick auf Scarletts Schulter,
als hätte alle Kraft sie plötzlich verlassen.
Manche
dieser Leute waren völlig unbewaffnet; man hatte ihnen weder Gewehre noch
Munition austeilen können. Sie hofften, sich später mit den Waffen gefallener
und gefangener Yankees ausrüsten zu können. Viele trugen Buschmesser im Stiefel
und dicke Stöcke mit Eisenspitzen in der Hand, die unter dem Namen »Joe Browns
Piken« bekannt waren. Hier und da hatte ein Glücklicherer eine alte Muskete mit
Feuersteinschloß über der Schulter und ein Pulverhorn am Gürtel hängen.
Johnston hatte rund zehntausend Mann auf dem Rückzug verloren, er brauchte
zehntausend Mann ganz frischer Truppen. »Und jetzt bekommt er dies!«
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