Margaret Mitchell
einem
Ochsenwagen, nach einem Kopfschuß kaum noch am Leben. Aber sie konnte ihn nicht
herauszerren, ohne sechs andere Leidensgefährten zu behelligen. Deshalb ließ
sie ihn ins Hospital weiterfahren. Später erfuhr sie, er sei gestorben, ehe ihn
überhaupt ein Arzt zu sehen bekam, und irgendwo begraben worden, niemand wußte
genau, an welcher Stelle. In diesen Tagen waren Unzählige in eilig
geschaufelten, flachen Gräbern auf dem Oaklandfriedhof eingesenkt worden.
Melanie empfand es bitter, daß sie keine Locke von Careys Haar hatte
abschneiden und seiner Mutter nach Alabama schicken können.
Als die
schwüle Nacht weiter vorrückte und der Rücken ihnen schmerzte und die Knie vor
Erschöpfung zitterten, riefen Scarlett und Pitty immer noch Soldaten um
Soldaten an: »Wie steht es, wie steht es?«
Und als
die endlosen Stunden weiterschlichen, bekamen sie andere Antworten und sahen
einander erbleichend an:
»Wir
weichen zurück.« - »Sie sind zu Tausenden in der Übermacht.« -»Sie haben
Wheelers Reiterei bei Decatur abgeschnitten.« - »Bald sind wir nun alle in der
Stadt.«
Scarlett und Pitty packten einander am Arm, um sich zu
stützen. »Ja, und kommen nun die Yankees?«
»Ja, sie
kommen, aber herein kommen sie nicht, meine Dame.« - »Keine Sorge, Fräulein,
Atlanta bekommen sie nicht.« - »Nein, wir haben tausend Befestigungen um die
Stadt.« - »Der alte Joe hat gesagt: >Ich kann Atlanta ewig halten.«« - »Aber
wir haben den alten Joe nicht mehr.« - »Warum sind die Damen nicht nach Macon
gegangen oder irgendwohin, wo es sicher ist?« - »Die Yankees kriegen Atlanta
nicht, aber solange sie es versuchen, ist es für die Damen nicht gut hier
drinnen.« - »Sie werden uns gewaltig beschießen.«
Am
nächsten Tag strömte die geschlagene Armee im warmen dampfenden Regen durch
Atlanta, von Hunger und Müdigkeit durch sechsundsiebzig Tage Kampf und Rückzug
zu Tode erschöpft. Ihre Pferde glichen verhungerten Vogelscheuchen. Kanonen und
Munitionswagen waren mit Tauenden und Streifen ungegerbten Leders angeschirrt.
Sie kamen aber nicht als ein zuchtloser Haufen, sondern marschierten in guter
Ordnung, und ihre zerfetzten roten Schlachtfahnen wehten im Regen. Unter dem
alten Joe hatten sie gelernt, wie man sich zurückzieht; er hatte den Rückzug zu
einer ebenso vollendeten strategischen Meisterleistung gemacht wie den
Vormarsch. Diese bärtigen, zerlumpten Kolonnen marschierten mit dem Gesang des
Liedes »Maryland, mein Maryland« auf den Lippen die Pfirsichstraße hinunter.
Die ganze Stadt war auf den Beinen und jubelte ihnen zu. Ob Sieg, oder
Niederlage, es waren ihre Jungens.
Der
Landsturm, der noch so kurz zuvor in glänzenden, neuen Uniformen ausgezogen
war, unterschied sich jetzt kaum noch von den kampferprobten alten Truppen, so
schmutzig und zerrissen sah auch er aus. Die Augen der Leute hatten einen neuen
Blick bekommen. Die drei Jahre, in denen sie für sich selbst nach
Entschuldigungen gesucht hatten, warum sie nicht an der Front waren, lagen
jetzt hinter ihnen. Sie hatten die Sicherheit daheim gegen die Strapazen des
Schlachtfeldes eingetauscht und manche ein leichtes Leben gegen einen schweren
Tod. Jetzt waren sie Veteranen, wenn auch nach gar kurzem Dienst, und hatten
sich bewährt. Sie suchten in der Menge nach befreundeten Gesichtern und
blickten ihnen stolz und trotzig ins Auge. Jetzt durften auch sie den Kopf hoch
tragen.
Die alten
Männer und die großen Knaben aus der Landwehr marschierten vorbei, die
Graubärte fast zu matt, die Füße voranzusetzen, die Knaben mit dem Ausdruck
müder Kinder, die zu früh den Problemen der Großen ins Gesicht sehen müssen.
Scarlett erblickte Phil Meade und erkannte ihn kaum, so geschwärzt waren seine
Züge von Pulver und Ruß, so verfallen vor Anstrengung und Müdigkeit. Onkel
Henry humpelte ohne Hut im Regen vorbei, sein Kopf schaute durch ein Loch aus
einem Stück alten Ölzeuges hervor. Großpapa Merriwether kam auf einer Lafette
gefahren, die bloßen Füße in die Lumpen einer alten Decke gewickelt. Aber so
eifrig sie suchte, von John Wilkes war keine Spur ausfindig zu machen.
Johnstons
Veteranen indessen zogen mit jenen unermüdlichen, lässigen Schritten vorüber,
die sie durch den Feldzug dreier Jahre getragen hatten, und legten noch so viel
Lebensmut an den Tag, den hübschen Mädchen zuzuwinken und zuzulachen und
Männern, die nicht in Uniform waren, derbe Schimpfworte nachzurufen. Sie waren
auf dem Wege zu den Befestigungen, die die
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