Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Margaret Mitchell

Margaret Mitchell

Titel: Margaret Mitchell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vom Winde verweht
Vom Netzwerk:
die Straße.
Scarlett schrie ihr zu, aber in dem Tumult ging ihre Stimme unter, und der
Wagen schaukelte und rumpelte vorüber. Einen Augenblick begriff sie nicht, was
das alles zu bedeuten hatte. Dann entsann sie sich, daß die Speicher der
Heeresverwaltung an der Eisenbahnstrecke lagen, und sagte sich, daß man sie für
die Bevölkerung geöffnet hatte, damit möglichst viel gerettet werde, ehe die
Yankees kamen.
    Eilig
drängte sie sich durch die Menge, die den freien Platz von Five Points
überschwemmte, und lief, so schnell ihre Füße sie tragen wollten, die Straße
bis zum Bahnhof entlang. Durch das Gewirr der Ambulanzen und durch die
Staubwolken erblickte sie die Ärzte und Krankenpfleger. Gottlob, nun mußte sie
Dr. Meade bald finden. Als sie beim Atlanta-Hotel um die Ecke bog und den
Bahnhof vor sich liegen sah, blieb sie schaudernd stehen.
    In der
erbarmungslosen Sonne lagen Hunderte von Verwundeten, Schulter an Schulter,
Sohle an Sohle, in Reih und Glied. Die Schienen und die Seitenstraßen entlang
und in den Wagenschuppen lagen sie in endlosen Reihen. Einige steif und still,
andere wanden sich stöhnend unter der heißen Sonne. Überall schwärmten die
Fliegen um sie herum, krochen ihnen summend übers Gesicht, überall waren Blut,
Schmutz, Bandagen, Gestöhn, gellende Flüche und Schmerzensschreie, wenn die
Krankenträger die Leute anhoben. Der Geruch von Schweiß, Staub und Kot stieg in
sengend heißen Wellen empor. Scarlett wurde bei dem Gestank übel.
    Sie hielt
sich die Hand vor den Mund und kämpfte mit dem Brechreiz. Dies konnte sie nicht
mehr ertragen. Verwundete hatte sie im Lazarett gesehen, auf Tante Pittys Wagen
und nach den Gefechten am Bach, aber so etwas wie diese langen Reihen
stinkender, blutiger Leiber, die in der grellen Sonne schmachteten, noch nie.
Diese Schmerzen, dieser Dunst, dieser Lärm es war das Inferno.
    Sie befand
sich jetzt mitten darin, biß die Zähne zusammen, ging die Reihen entlang und
spähte unter den aufrechten Gestalten nach Dr. Meade aus. Aber sogleich
bemerkte sie, daß das so nicht ging. Bei jedem Schritt, den ihre Blicke nicht
begleiteten, trat sie auf einen der Ärmsten. Sie raffte die Röcke empor und
versuchte, sich zu einem Menschenknäuel, von wo aus die Krankenträger ihre
Weisungen bekamen, einen Weg zu bahnen. Aber auf Schritt und Tritt zogen
fiebernde Hände sie am Rock und heisere Stimmen ächzten zu ihr empor: »Wasser!
Bitte, Wasser! Um Christi willen, Wasser!«
    Der
Schweiß strömte ihr vor Angst und Entsetzen übers Gesicht. Sie würde
aufschreien und ohnmächtig werden, wenn sie auf einen dieser zuckenden Leiber
trat. Sie schritt über Tote hinweg, über Männer mit stumpfen Augen, deren Hände
an den Bauch griffen, wo zerrissene Uniformfetzen mit angetrocknetem Blut an
den Wunden klebten, über Männer, deren Barte von Blut starrten und die aus
zertrümmerten Kiefern Laute von sich gaben, die nur bedeuten konnten: »Wasser,
Wasser!«
    Wenn sie
Dr. Meade nicht bald fand, so brach sie noch in ein fassungsloses Geschrei aus.
Sie blickte zu der Gruppe von Männern hinüber, die beim Wagenschuppen stand,
und rief so laut sie konnte: »Dr. Meade! Ist Dr. Meade da?«
    Ein Mann
löste sich endlich aus der Gruppe und schaute zu ihr herüber. Es war der
Doktor. Er hatte den Rock abgelegt und die Ärmel bis zu den Schultern
aufgekrempelt. Hemd und Hose waren rot wie die eines Schlächters, und sogar die
Spitzen seines eisgrauen Bartes waren von Blut besudelt. Sein Gesicht sah wie
trunken aus vor Überanstrengung, vor ohnmächtigem Zorn, vor heißem Mitleid. Es
war grau und schmutzig. Der Schweiß war ihm in langen Bächen heruntergelaufen.
Aber seine Stimme klang ruhig und entschieden, als er ihr zurief: »Gott sei
Dank, daß Sie da sind. Ich kann alle Hände gebrauchen.«
    Einen Augenblick
starrte sie ihn entgeistert an und ließ vor Entsetzen die Röcke fallen. Sie
streiften über das schmutzige Gesicht eines Verwundeten, der einen matten
Versuch machte, den Kopf aus den erstickenden Stoffen zu befreien. Was hatte
Mr. Meade da gesagt? Der Staub schlug ihr von den Ambulanzen her betäubend ins
Gesicht, der Gestank drang ihr wie eine faulende Flüssigkeit in die Nase.
    »Rasch,
Kind, komm her!«
    Sie raffte
den Rock wieder hoch und ging, so schnell es zwischen den herumliegenden
Leibern möglich war, auf ihn zu, legte ihm die Hand auf den Arm und fühlte, wie
er vor Erschöpfung zitterte. Aber seinem Gesicht war nichts von

Weitere Kostenlose Bücher