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Margaret Mitchell

Margaret Mitchell

Titel: Margaret Mitchell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vom Winde verweht
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Aber sie sah ihr Spiegelbild gar
nicht. Kalte Schauer durchliefen ihren ganzen Körper, obwohl sie vom Schweiß
durchnäßt war. Sie lief aus dem Hause in die glühende Sonnenhitze hinein und
jagte die Pfirsichstraße hinunter. Ganz unten am Ende der Straße hörte sie ein
Durcheinander von vielen Stimmen. Als sie das Leydensche Haus vor sich sah,
begann sie zu keuchen, denn ihr Korsett war fest geschnürt, aber sie dachte
nicht daran, ihre Schritte zu mäßigen. Der Lärm wurde immer lauter.
    Vom
Leydenschen Hause bis nach Five Points glich die Straße einem eben zerstörten
Ameisenhaufen. Neger rannten erschrocken hin und her, vor den Haustüren standen
verlassene weiße Kinder und heulten. Auf der Straße drängten sich Fuhrwerke und
Ambulanzen voll Verwundeter und Wagen, die mit Gepäck und Möbelstücken beladen
waren. Reiter kamen aus den Seitenstraßen gesprengt und jagten auf Hoods
Hauptquartier zu. Vor dem Bonnellschen Hause stand der alte Amos beim Wagen; er
hielt den Kopf des Pferdes und grüßte Scarlett mit rollenden Augen.
    »Sind Sie
noch nicht weg, Miß Scarlett? Wir gehen jetzt. Die alte Miß packt ihren
Koffer.«
    »Ihr geht? Wohin?«
    »Das weiß der Allmächtige, Miß,
irgendwohin, die Yankees kommen.«
    Sie jagte
weiter, ohne zu grüßen. Die Yankees kommen! Bei der Wesleykapelle blieb sie
stehen, um Atem zu schöpfen und zu warten, daß das hämmernde Herz sich
beruhigte. Als sie dastand und sich an einem Laternenpfahl festhielt, sah sie
einen Offizier zu Pferde die Straße von Five Points herabgaloppieren, und es
trieb sie plötzlich, ihm in den Weg zu laufen und zu winken. »Halt! Bitte,
halt!«
    Er zog so
plötzlich die Zügel an, daß das Pferd stieg und mit den Hufen in die Luft
schlug. Sein Gesicht trug die scharfen Züge der Hetze und Übermüdung. »Sagen
Sie, ist es wahr? Kommen die Yankees?«
    »Ich
fürchte, ja.«
    »Wissen
Sie es genau?«
    »Ja, vor
einer halben Stunde ist aus Jonesboro eine Depesche ins Hauptquartier gelangt.«
    »Aus
Jonesboro, sind Sie sicher?«
    »Ganz sicher,
die Depesche kam von General Hardee und lautete: >Habe Schlacht verloren,
bin in vollem Rückzuge.««
    »O mein
Gott!«
    Das dunkle
Gesicht des Mannes blickte sie müde und unerregt an. Er faßte die Zügel und
setzte den Hut wieder auf.
    »Ach,
bitte noch einen Augenblick, was sollen wir tun?«
    »Gnädige
Frau, das kann ich nicht sagen, die Armee wird Atlanta räumen.«
    »Und
überläßt uns den Yankees?«
    »Ich
fürchte, ja.«
    Er jagte
davon und ließ Scarlett mitten auf der Straße in dem roten Staub stehen.
    Die
Yankees kamen. Die Armee zog ab. Was sollten sie tun? Wohin sollten sie
fliehen? Sie konnten nicht fliehen, denn Melanie lag im Bett und erwartete das
Kind. Ach, warum mußten Frauen Kinder bekommen! Wäre nicht Melanie, so könnte
sie Wade und Prissy nehmen und sich im Wald verstecken. Ach, wäre das Kind doch
eher gekommen, dann hätten sie alle zusammen fliehen können. Aber nun mußte sie
Dr. Meade suchen - vielleicht konnte er die Niederkunft beschleunigen. Sie
raffte die Röcke und lief die Straße hinunter. In ihren Ohren hämmerte es: »Die
Yankees kommen, die Yankees kommen!«
    In Five
Points wimmelte es von kopflosen Menschen, von Wagen, Karren, Equipagen voller
Verwundeter. Ein Brausen, gleich dem der Meeresbrandung, stieg von dieser Menge
empor. Dann sah sie etwas Seltsames. Aus der Richtung der Eisenbahnlinie kamen
Scharen von Frauen daher, die Schinken auf der Schulter trugen. Kleine Kinder
stolperten unter der Last voller Sirupeimer neben ihnen her. Junge Burschen
schleppten Säcke voller Getreide und Kartoffeln. Ein alter Mann schob mühsam
eine Karre mit einem kleinen Faß Mehl vor sich her. Männer, Frauen und Kinder,
Weiße und Schwarze, schleppten Ballen, Säcke und Kisten voller Nahrungsmittel,
mehr, als sie im ganzen letzten Jahre gesehen hatte. Plötzlich brach eine
schwankende Chaise sich Bahn, und in ihr stand die zarte, elegante Mrs. Elsing,
Zügel in der einen, Peitsche in der andern Hand. Bleichen Gesichts, ohne Hut,
mit aufgelöstem grauem Haar, das ihr im Rücken flatterte, hieb sie wie eine
Furie auf das Pferd ein. Auf dem Rücksitz des Wagens wurde ihre schwarze Amme
Melissy hin und her geschüttelt. Mit der einen Hand hielt sie eine fette
Speckseite an sich gepreßt, mit der andern und mit beiden Füßen suchte sie die
Kisten und Kasten festzuhalten, die um sie herum aufgetürmt waren. Ein Sack mit
getrockneten Erbsen war geplatzt, und die Erbsen rollten auf

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