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Margaret Mitchell

Margaret Mitchell

Titel: Margaret Mitchell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vom Winde verweht
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Schwäche
anzusehen.
    »Ach,
Doktor«, rief sie, »Sie müssen kommen. Melanie bekommt ihr Kind.« Er blickte
sie an, als gingen ihre Worte seinem Bewußtsein überhaupt nicht ein. Ein Mann,
der zu ihren Füßen mit dem Kopf auf seiner Feldflasche am Boden lag, lächelte
ihr kameradschaftlich zu: »Wird schon gehen«, sagte er zuversichtlich.
    Sie
blickte nicht einmal zu ihm hinunter, sondern schüttelte den Doktor am Arm.
»Melanie, das Kind, Sie müssen kommen ... « Es wurde ihr schwer, die Worte
herauszubringen, da fremde Männer zu Hunderten zuhörten. »Die Wehen sind schon
sehr schwer ... bitte, Doktor!«
    »Ein Baby?
Großer Gott!« schrie der Doktor, und sein Gesicht verzog sich plötzlich vor Haß
und Wut, nicht gegen sie oder irgendeinen andern Menschen, sondern gegen die
ganze Welt, in der sich so etwas ereignen konnte. »Bist du wahnsinnig? Ich kann
doch die Leute hier nicht verlassen! Sie liegen zu Hunderten im Sterben, ich
kann sie doch nicht wegen eines verwünschten Babys im Stich lassen. Hole dir
eine Frau, die dir hilft. Meine Frau!«
    Sie
öffnete den Mund, um ihm zu sagen, warum Mrs. Meade nicht kommen konnte, und
schloß ihn wieder, er wußte also nicht, daß sein Sohn verwundet war! Ob er wohl
noch hier wäre, wenn er es wüßte? Eine innere Stimme sagte ihr, auch wenn Phil
im Sterben läge, so stünde der Doktor immer noch hier und hülfe den vielen
statt dem einen.
    »Nein, Sie
müssen kommen, Doktor. Sie haben doch gesagt, es würde eine schwere Entbindung.
Wenn Sie nicht kommen, stirbt sie!«
    Er
schüttelte rücksichtslos ihre Hand ab und erwiderte, als hätte er sie kaum
gehört: »Stirbt? Ja, sie sterben alle. Alle die Leute hier sterben. Keine
Verbandstoffe, kein Pflaster, kein Chinin, kein Chloroform. Was gäbe ich nicht
um ein wenig Morphium! Nur für die schlimmsten Fälle, nur ein wenig Chloroform.
Gott verdamm' die Yankees!«
    »Zur Hölle
mit ihnen!« sagte der Mann auf dem Fußboden und zeigte unter seinem Bart die
Zähne.
    Um
Scarlett begann es zu schwanken, in ihren Augen standen die Tränen der
Verzweiflung. Der Doktor konnte nicht mitkommen. Nun mußte Melanie sterben, und
sie hatte ihr den Tod gewünscht.
    »Um Gottes
willen, Doktor, bitte!«
    Der Doktor
biß sich auf die Lippen, sein Gesicht wurde hart, als sein Ausdruck wieder
kühler wurde. »Kind, ich will es versuchen. Versprechen kann ich nichts, aber
versuchen will ich es. Wenn wir diese Leute versorgt haben! Die Yankees kommen,
die Truppen ziehen ab. Ich weiß nicht, was mit den Verwundeten geschehen soll.
Züge gibt es nicht. Die Straße nach Macon ist vom Feinde besetzt. Ich will es
versuchen. Aber jetzt geh du nur nach Haus. Ein Kind holen ist nicht schwer.
Einfach abbinden ... «
    Er wandte
sich wieder ab, als ein Wärter ihn an den Arm tippte, gab seine kurzen
Weisungen und zeigte auf diesen und jenen Verwundeten. Die Männer zu Scarletts
Füßen blickten mitleidig zu ihr auf. Sie wandte sich zum Gehen, der Doktor
hatte sie vergessen.
    Rasch
suchte sie sich ihren Weg durch diese Hölle der Verwundeten zurück nach der
Pfirsichstraße. Der Doktor kam nicht. Sie mußte sehen, wie sie sich selbst
half. Gott sei Dank, daß Prissy ein wenig von Geburtshilfe verstand. Der Kopf
schmerzte ihr von der Hitze, die Taille, naß von Schweiß, klebte ihr am Körper.
Ihre Beine waren kraftlos wie in einem bösen Traum, wenn man zu laufen
versuchte und sie nicht bewegen konnte. Dann begann in ihrem Kopf wieder der
Refrain: »Die Yankees kommen.« Sie wühlte sich mit hämmerndem Herzen durch das
Gedränge der Volksmenge bei Five Points. Es war jetzt so arg, daß auf den
schmalen Fußsteigen kein Platz mehr war. Sie mußte auf dem Fahrweg gehen.
    Lange
Kolonnen staubbedeckter Soldaten schleppten sich todmüde vorbei. Es mußten
Tausende sein, bärtige, verschmutzte Leute, das Gewehr über der Schulter, zogen
sie in raschem Schritt dahin. Kanonen rollten vorüber, die Fahrer schlugen mit
Streifen ungegerbten Leders auf die mageren Gäule ein. Planwagen mit
zerrissenen Verdecken schwankten über die ausgefahrenen Furchen. Reiter
preschten in endlosen, erstickenden Staubwolken dahin. So viele Soldaten hatte
sie noch nie auf einmal gesehen. Zurück, zurück! Die Yankees kommen, die Armee
zieht ab!
    Die
fliehenden Truppen drängten sie wieder auf den überfüllten Fußsteig. Ihr schlug
der Dunst billigen Fusels entgegen. Unter dem Pöbel der Decaturstraße waren
allerlei auffallende Frauenzimmer zu sehen, deren bunter Putz und

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