Margaret Mitchell
geschminkte
Gesichter schlecht in dieses Trauerspiel paßten. Die meisten waren betrunken,
und die Soldaten, an deren Arm sie hingen, waren es noch mehr. Ein brandroter
Lockenkopf fiel ihr ins Auge, sie sah Belle Watling und hörte ihr schrilles
weinseliges Gelächter, als sie sich an einen einarmigen Soldaten hängte, der
taumelte und stolperte.
Als sie
sich einen Häuserblock aus Five Points hinaus durch die Menge gedrängt und
gestoßen hatte, wurde die Straße etwas leerer. Sie raffte die Röcke hoch und
fing wieder an zu laufen. Vor den Stufen der Wesleykapelle sank sie nieder und
barg den Kopf in den Händen, bis ihr das Atmen wieder leichter wurde. Wenn doch
ihr Herz aufhören wollte zu hämmern, zu trommeln und zu jagen. Ihr war, als
schnitte das Korsett ihr die Rippen mittendurch. Könnte sie doch nur einmal bis
tief in den Bauch hinein Atem holen! Und wäre doch nur irgend jemand da, an den
sie sich um Hilfe wenden könnte! Immer, ihr ganzes Leben hindurch, hatten bei
jeder Schwierigkeit willige Hände ihr beigestanden; nun aber, im Augenblick der
allerhöchsten Not, war sie allein.
Noch immer
schwindelig, stand sie wieder auf und machte sich von neuem auf den Weg. Als
sie ihr Haus erblickte, sah sie Wade auf der Gartentür stehen und sich darauf
hin und herschwenken. Er sah sie, verzog sein Gesicht, begann zu heulen und
hielt einen geschwollenen Finger in die Höhe. »Weh getan«, schluchzte er, »tut
weh!«
»Sei
still! Geh in den Hintergarten und spiel!«
Sie
blickte empor und sah droben Prissy, Angst und Beklommenheit im Gesicht, zum
Fenster hinauslehnen. Scarlett winkte ihr, herunterzukommen, und trat ins Haus.
Sie löste die Hutschleife, warf den Hut auf den Tisch und fuhr sich mit dem
Unterarm über die nasse Stirn. Oben hörte sie eine Tür gehen, und leises,
jammervolles Stöhnen aus einem Abgrund von Qual schlug ihr ans Ohr. Prissy kam
in großen Sätzen die Treppe hinunter. »Ist der Doktor da?«
»Nein, er
kann nicht kommen.«
»Ach, du
lieber Gott, Miß Scarlett! Miß Melly geht es sehr schlecht!«
»Der
Doktor kann nicht kommen, niemand kann kommen. Du mußt das Kind holen. Ich
helfe dir dabei.«
Prissy
sperrte den Mund auf und bewegte wortlos die Zunge. Sie sah Scarlett von der
Seite an, drehte sich auf den Füßen hin und her und verrenkte den mageren
Oberkörper.
»Mach
nicht solch dummes Gesicht«, fuhr Scarlett sie an.
»Um Gottes
willen, Miß Scarlett!« Prissys Augen rollten vor Angst im Kopf. »Um Gottes
willen, wir müssen Doktor haben! Ich ... ich ... Miß Scarlett, ich weiß nicht
keine Ahnung, wie Kinder holen. Ma mir immer verboten dabeisein, wenn Kinder
kommen!«
»Du
schwarze Lügnerin - was soll das heißen! Du hast mir doch gesagt, du weißt mit
Entbindungen Bescheid. Was soll ich nun glauben! Heraus mit der Sprache l«
Sie
schüttelte das Mädchen, bis der wollige Kopf wie betrunken hin und her
schwankte.
»Ich
gelogen, Miß Scarlett, gelogen! Ich weiß auch nicht, warum gelogen, nur einmal
bei einem Baby ich haben zugesehen, und Ma mich deswegen schrecklich verprügeln
I«
Scarlett
starrte sie fassungslos an, und Prissy versuchte sich loszureißen. Einen
Augenblick lang wollte Scarlett es nicht glauben, aber als sie endlich begriff,
übermannte sie der Zorn. Nie im Leben hatte sie einen Sklaven geschlagen, aber
jetzt versetzte sie mit der ganzen Kraft ihres müden Armes der schwarzen Wange
eine schallende Ohrfeige. Prissy kreischte aus Leibeskräften und versuchte,
sich frei zu machen. Da hörte das Stöhnen im zweiten Stock auf, und mit
schwacher, bebender Stimme rief Melanie: »Scarlett, bist du es? Bitte, bitte
komm!«
Scarlett
ließ Prissys Arm los, das Mädchen setzte sich wimmernd auf die Treppenstufe.
Einen Augenblick blieb Scarlett stehen und horchte auf das Stöhnen, das von
neuem einsetzte. Ihr war, als legte sich ihr ein Joch schwer auf den Nacken,
ein Joch mit einer schweren Last darauf, die sie fühlen mußte, sobald sie den
ersten Schritt tat. Sie versuchte, sich zu überlegen, was Mammy und Ellen bei
Wades Geburt alles getan hatten, aber die Wehen hatten fast alles in einem
barmherzigen Nebel verschwimmen lassen. Nur weniges fiel ihr wieder ein, und
sie erteilte Prissy rasch einige Weisungen: »Mach Feuer im Herd und sorg für
kochendes Wasser. Bring alle Handtücher, die du finden kannst, und auch die
Rolle Garn. Hol meine Schere. Sag nicht, du kannst sie nicht finden. Hol sie,
aber schnell.«
Mit einem
Ruck zog sie Prissy in die Höhe und
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