Margaret Mitchell
Starken, anstatt von den Armen und Schwachen?
Seit Robin Hood hat das bis auf den heutigen Tag immer für hochanständig
gegolten.«
»Weil«,
sagte Scarlett kurz, »es erheblich leichter und sicherer ist, von den Armen zu stehlen,
wie Sie es nennen.«
Er lachte
lautlos in sich hinein, daß seine Schultern bebten.
»Bravo,
Sie sind doch wenigstens ein ehrlicher Halunke, Scarlett.«
Ein
Halunke! Seltsam, daß das Wort sie verletzte. Sie war kein Halunke, sagte sie
sich ungestüm. Jedenfalls wollte sie keiner sein. Sie wollte eine vornehme Dame
sein. Einen Augenblick lang dachte sie an ihre Mutter, die sich unermüdlich im
Dienste anderer aufrieb - geliebt, geachtet und verehrt -, und ihr wurde weh
ums Herz.
»Wenn Sie
versuchen wollen mich zu quälen«, sagte sie müde, »es hat keinen Zweck. Ich
weiß, ich bin gegenwärtig bedenkenloser, als ich sein sollte. Nicht so gut und
freundlich, wie ich es meiner Erziehung nach sein sollte. Aber ich kann nichts
dafür, Rhett. Wirklich nicht. Was hätte ich sonst tun sollen? Was wäre mit uns
allen geschehen, wenn ich den Yankee, der damals nach Tara kam, geschont hätte?
Er hätte mich ... Nein, daran mag ich nicht einmal denken. Oder wenn ich zu
Jonas Wilkerson, als er uns das Haus fortnehmen wollte, höflich und
rücksichtsvoll gewesen wäre? Wo säßen wir alle jetzt? Und wenn ich lieb und
einfältig geblieben wäre, wenn ich Frank nicht wegen der faulen Schuldner in
den Ohren gelegen hätte ... ja, was dann? Vielleicht bin ich ein Schurke, aber
ich will nicht immer ein Schurke bleiben, Rhett. Die letzten Jahre jedoch ...
und auch jetzt noch ... was hätte ich denn tun sollen? Wie hätte ich anders
handeln können? Ich hatte immer das Gefühl, ich ruderte ein schwerbeladenes
Boot mitten im Sturm. Ich hatte solche Mühe, es über Wasser zu halten, daß ich
mir über nebensächliche Dinge, über gute Manieren und dergleichen keine
Gedanken machen konnte. Ich hatte zu große Angst, das Boot könnte mir
vollaufen. Deshalb habe ich alles, was mir entbehrlich schien, über Bord geworfen.«
»Stolz und
Ehre, Wahrheit, Tugend und Güte«, zählte er mit seidenweichem Ton auf. »Sie
haben recht, Scarlett. Das sind entbehrliche Dinge, wenn ein Boot am Versinken
ist. Aber was tun Ihre Freunde? Entweder sie bringen ihr Schiff sicher mit
unbeschädigter, vollständiger Ladung an Land, oder sie gehen mit stolz wehender
Flagge unter.«
»Narren
sind sie allesamt«, sagte sie kurz. »Jedes zu seiner Zeit. Wenn ich viel Geld
habe, will ich auch wieder anständig sein, dann trübe ich kein Wässerchen mehr.
Dann kann ich es mir leisten.«
»Dann
kannst du es dir wieder leisten, aber tust es nicht mehr. Was einmal über Bord
geworfen ist, läßt sich schwer wieder bergen, und wenn man es wiederhat, ist es
meistens so beschädigt, daß nichts mehr damit anzufangen ist. Ich fürchte, wenn
Sie sich eines Tages die Ehre, die Tugend und die Güte, die Sie über Bord
geworfen haben, wieder auffischen, dann haben alle diese schönen Dinge sich im
Wasser schwerlich zu ihrem Vorteil verwandelt.«
Plötzlich
stand er auf und griff nach seinem Hut.
»Sie
gehen?«
»Ja. Atmen
Sie nicht auf? Ich überlasse Sie dem, was von Ihrem Gewissen noch übrig ist.«
Er schaute
schweigend zu der Kleinen hinab und streckte einen Finger aus, damit sie danach
greife.
»Frank
platzt wohl vor Stolz?«
»Selbstverständlich.«
»Er hat
viele Pläne für das Kind?«
»Nun ja,
Sie wissen, wie Väter sich mit ihren Babys anstellen.«
»Dann
sagen Sie ihm«, sagte Rhett plötzlich mit sonderbar verändertem
Gesichtsausdruck, »sagen Sie ihm, wenn er seine Pläne für das Kind in Erfüllung
gehen sehen will, so soll er lieber abends öfters zu Hause bleiben.«
»Was
wollen Sie damit sagen?«
»Genau was
ich sage. Zu Hause bleiben soll er.«
»Sie
gemeiner Kerl! Den armen Frank zu verdächtigen, er ...«
»Ach du
lieber Gott!« Rhett lachte laut auf. »Das wollte ich damit nicht sagen, daß er
sich mit Weibern herumtriebe! Frank! Du lieber Gott!«
Immer noch
lachend ging er die Stufen hinunter.
44
Es war ein
kalter und windiger Märznachmittag, und Scarlett zog sich die Wagendecke bis
unter die Arme hinauf, als sie über die Landstraße nach Decatur zu Johnnie
Galleghers Mühle hinausfuhr. Es war gefährlich, allein zu fahren, das wußte
sie, gefährlicher als je zuvor, denn jetzt waren die Neger völlig außer Rand
und Band. Wie Ashley prophezeit hatte, mußte man es jetzt ausbaden, daß
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