Margos Spuren
einzuladen. Sie wohnte auf der anderen Seite von Jefferson Park, nicht weit von uns, in einer netten Wohnung über einem Schreibwarenladen – an der gleichen Ecke, wo der Tote gewohnt hatte. Ich kannte das Haus, weil Freunde meiner Eltern im zweiten Stock wohnten. Bevor man überhaupt zu den Fluren mit Wohnungstüren kam, gab es zwei Sicherheitstüren. Ich schätzte, nicht einmal Margo Roth Spiegelman konnte dort einbrechen.
»War Lacey brav oder böse?«, fragte ich.
»Lacey war eindeutig böse«, antwortete Margo. Sie starrte wieder aus dem Beifahrerfenster und redete von mir weg, so dass ich sie kaum verstehen konnte. »Ich meine, wir waren seit dem Kindergarten Freundinnen.«
»Und?«
»Sie hat mir das von Jason verschwiegen. Und nicht nur das. Im Rückblick ist sie eine schreckliche Freundin gewesen. Findest du etwa, dass ich zu dick bin?«
»Natürlich nicht«, sagte ich. »Du bist …« Ich brach ab, bevor ich sagen konnte : nicht dünn, aber das ist ja das Tolle; das Tolle an dir ist, dass du nicht wie ein Junge aussiehst . »Du dürftest keinen Millimeter dünner sein.«
Sie lachte, wedelte mit der Hand und sagte : »Du stehst auf meinen großen Hintern.« Ich wandte den Blick eine Sekunde von der Straße ab und sah zu ihr rüber, was ich nicht hätte tun sollen, denn sie konnte in meinem Gesicht lesen, was ich dachte, und in meinem Gesicht stand : Er ist nicht groß, er ist großartig. Aber es war mehr als das. Man konnte Margo den Menschen nicht ohne Margo den Körper sehen. Das eine war vom anderen nicht zu trennen. Wenn man Margo in die Augen sah, sah man sowohl, dass ihre Augen blau waren, als auch, dass es Margos Augen waren. Deshalb konnte man nicht sagen, ob Margo Roth Spiegelman dick oder dünn war, genauso wenig, wie man sagen konnte, der Eiffelturm sei einsam oder nicht. Margos Schönheit war ein versiegeltes Gefäß der Vollkommenheit – ganzheitlich und nicht in seine Teile zu zerlegen.
»Jedenfalls macht sie ständig diese kleinen Kommentare«, fuhr Margo fort. »›Ich würde dir die Shorts leihen, aber ich glaube, sie sind dir zu klein.‹ Oder : ›Du bist so verrückt. Toll, dass die Jungs sich bei dir in deine Persönlichkeit verlieben.‹ Die ganze Zeit untergräbt sie mich. Ich glaube, sie hat noch nie einen Satz gesagt, mit dem sie mich nicht unterminimiert hat.«
»Unterminiert.«
»Danke, du nervtötender Superlinguistiker.«
»Linguist«, sagte ich.
»O Gott, ich bringe dich noch um.« Aber sie lachte.
Ich fuhr um Jefferson Park herum, damit wir nicht bei uns zu Hause vorbeimussten, nur für den Fall, dass unsere Eltern wach waren und uns vermissten. Wir kamen am See vorbei ( Lake Jefferson ), dann bogen wir in die Jefferson Court Street ein und passierten Jefferson Parks kulissenhaft wirkende Hauptstraße, die beklemmend leer und verlassen war. Vor dem Sushi-Restaurant fanden wir Laceys schwarzen Jeep. Zwei Ecken weiter parkten wir auf dem ersten Parkplatz, den wir fanden und der nicht genau unter einer Straßenlaterne war.
»Würdest du mir bitte den letzten Schellfisch reichen?«, bat Margo. Ich war froh, ihn loszuwerden, denn er fing jetzt schon an zu stinken. Und dann schrieb Margo in ihrer Spezialschreibung auf das Packpapier :
deine freundschaft Mit MS Schläft bei Den fischen.
Wir liefen im Slalom um die Lichtkreise der Laternen, so lässig, wie es für zwei Menschen möglich war, von denen einer ( Margo ) einen ziemlich großen in Papier eingewickelten Schellfisch und der andere ( ich ) eine blaue Farbdose trug. Ein Hund bellte, und wir erstarrten, doch dann war es wieder still, und kurze Zeit später hatten wir Laceys Jeep erreicht.
»Tja, das macht es schwieriger«, sagte Margo, als sie feststellte, dass der Wagen abgeschlossen war. Sie griff in ihre Hosentasche und holte ein Stück Draht heraus, das mal ein Kleiderbügel gewesen war. Es dauerte weniger als eine Minute, bis sie die Tür geknackt hatte. Ich war entsprechend beeindruckt.
Als sie die Fahrertür offen hatte, griff sie hinüber und machte mir die Beifahrertür auf. »Hey, du musst mir helfen, den Sitz hochzuklappen«, flüsterte sie. Zusammen stemmten wir die hintere Sitzbank hoch. Margo schob das Paket darunter, dann zählte sie bis drei und mit Schwung ließen wir die Sitzbank auf den Schellfisch sausen. Ich hörte das widerliche Schmatzen eines platzenden Fischs. Die Vorstellung, wie Laceys Jeep nach einem Tag in der Sonne riechen würde, erfüllte mich unwillkürlich mit
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