Margos Spuren
weniger.« Bevor ich antworten konnte, sah sie wieder nach draußen und fing zu reden an. »Weißt du, was nicht schön daran ist : Von hier oben sieht man zwar den Rost nicht oder die Risse in der Farbe und so weiter, aber dafür sieht man, was diese Stadt wirklich ist. Wie künstlich sie ist. Sie sieht aus wie aus Plastik. Wie eine falsche Stadt. Ich meine, sieh hin, Q : Sieh dir all die Stichstraßen an, Sackgassen, die nirgendwohin führen, sondern nur in sich selbst kreisen, und all die Häuser, die gebaut wurden, um auseinanderzufallen. Und all die Plastikfiguren, die in den Plastikhäusern wohnen und ihre Zukunft verbrennen, damit ihnen warm bleibt. All die Plastikkids, die Plastikbier trinken, das ihnen irgendein Penner aus dem Plastikschnapsladen besorgt hat. Und alle sind verrückt nach Konsum. Nach Plastikdingen, die billig und vergänglich sind. Genau wie die Leute. Ich habe achtzehn Jahre hier gelebt, und nicht einmal in meinem Leben bin ich einem Menschen begegnet, dem irgendwas Wichtiges wichtig war.«
»Ich versuche, das nicht persönlich zu nehmen«, sagte ich. Wir starrten in die tintenschwarze Ferne, wo die Stichstraßen und konfektionierten Grundstücke lagen. Ihre Schulter lag an meinem Arm, und unsere Handrücken berührten sich, und obwohl ich Margo nicht ansah, hatte ich fast das Gefühl, ich würde mich an sie drücken, als ich mich an die Scheibe drückte.
»Tut mir leid«, sagte sie. »Vielleicht wäre alles anders, wenn ich die ganze Zeit mit dir rumgehangen hätte, statt mit … Ach, was soll’s. Ich kann mich selbst nicht leiden, dass mir so viel an meinen sogenannten Freunden liegt. Ich meine, nur damit du es weißt, ich bin nicht mal wahnsinnig verletzt wegen Jason. Oder Becca. Oder Lacey, auch wenn ich sie echt gerne gehabt habe. Aber diese Geschichte war einfach irgendwie die letzte Saite, die gerissen ist. Okay, es war eine blöde Saite, aber es war die einzige Saite, die ich noch hatte, und selbst ein Plastikmädchen braucht doch wenigstens eine Saite, oder?«
Und hier kommt mein Beitrag. Ich sagte : »Du kannst gerne morgen mit uns Mittagessen.«
»Das ist lieb«, sagte sie, dann verlor sich ihre Stimme. Sie drehte sich zu mir und nickte kaum merklich. Ich lächelte. Sie lächelte. Ich dachte jedenfalls, dass sie lächelte. Wir gingen zur Treppe, und dann rannten wir hinunter. An jedem Absatz sprang ich von der letzten Stufe ab und schlug die Hacken in der Luft zusammen, um sie zum Lachen zu bringen, und sie lachte. Ich dachte, ich heiterte sie auf. Ich dachte, sie ließ sich aufheitern. Ich dachte, dass vielleicht, wenn ich selbstbewusst wäre, etwas zwischen uns passieren würde.
Doch ich lag falsch.
7
Im Wagen, als ich den Schlüssel ins Zündschloss steckte, aber der Motor noch nicht an war, fragte sie : »Wann stehen deine Eltern eigentlich auf?«
»Keine Ahnung, um Viertel nach sechs?« Es war 3 : 51 Uhr. »Wir haben noch gut zwei Stunden, und neun Teile von elf Teilen sind schon erledigt.«
»Ich weiß. Aber das Aufwendigste habe ich für den Schluss aufgehoben. Trotzdem, wir schaffen es schon. Teil zehn – Q darf sich ein Opfer aussuchen.«
»Wie bitte?«
»Ich habe mir die Strafe ausgedacht. Jetzt musst du nur noch das Opfer wählen, auf das wir unseren mächtigen Zorn donnern und hageln lassen.«
»Auf das wir deinen mächtigen Zorn donnern und hageln lassen«, berichtigte ich, doch sie schüttelte empört den Kopf. »Außerdem weiß ich niemand, über den ich meinen Zorn donnern lassen will«, sagte ich, weil es stimmte. Ich fand immer, dass man wichtig sein musste, um Feinde zu haben. Beispiel : Historisch betrachtet hatte Deutschland mehr Feinde als Luxemburg. Margo Roth Spiegelman war Deutschland. Und Großbritannien. Und die Vereinigten Staaten. Und das zaristische Russland. Ich war Luxemburg. Ich saß herum, hütete Schafe und aß Kochkäse.
»Was ist mit Chuck?«, fragte sie.
»Hm«, machte ich. Chuck Parson war all die Jahre ein echter Fiesling gewesen – bevor sie ihn an die Leine genommen hatte. Neben dem Fließband-Waterloo in der Cafeteria hatte er sich mal an der Bushaltestelle vor der Schule auf mich gestürzt, mir den Arm umgedreht und verlangt : »Sag, dass du ’ne Schwuchtel bist.« »Schwuchtel« war sein Mein-Wortschatz-ist-beschränkt-also-erwarte-nichts-Geistreiches-von-mir-Allzweckschimpfwort. Und so unglaublich kindisch es war, am Ende musste ich mich Schwuchtel nennen, was mir deshalb etwas ausmachte, weil ich 1.
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