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Margos Spuren

Margos Spuren

Titel: Margos Spuren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Green
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Geistersiedlung nannte – ein Bauprojekt, das verödete, bevor es überhaupt richtig in Gang gekommen war. Mit meinen Eltern hatte ich oft Geisterstädte gesehen, doch noch nie eine, die so tot wirkte wie diese.
     
    Ein paar Kilometer nach Grovepoint Acres drehte Radar das Radio leiser und sagte : »Jetzt müssten wir gleich da sein.«
    Ich holte tief Luft. Die Aufregung des Schuleschwänzens war abgeflaut. Das hier wirkte nicht wie ein Ort, den Margo aufsuchen, geschweige denn als Versteck benutzen würde. Das hier war das Gegenteil von New York City. Es war der Teil von Florida, bei dessen Anblick man sich im Flugzeug fragte, warum Menschen auf die Idee gekommen waren, hier zu siedeln. Ich starrte auf den öden Asphalt, doch die Hitze verzerrte meine Sicht. Ein Stück weiter vorne sah ich eine Fertigbau-Ladenzeile, die in der grellen Sonne flimmerte.
    »Ist es das?« Ich beugte mich vor und zeigte auf das Gebäude.
    »Das müsste es sein«, sagte Radar.
    Ben schaltete das Radio ab, und wir wurden still, als wir auf den versandeten Parkplatz fuhren. Irgendwann hatte hier mal eine Reklametafel am Straßenrand gestanden. Der verrostete Pfosten ragte drei Meter auf, doch das Schild war verschwunden, einem Tornado oder dem unerbittlichen Verfall zum Opfer gefallen. Die Ladenzeile selbst hatte es nicht viel besser erwischt. Das flache, einstöckige Gebäude sah runtergekommen aus, an vielen Stellen war der rohe Beton zu sehen. Farbspäne rollten sich von der Wand wie Insekten, die sich an ihr Nest klammerten. Zwischen den Schaufenstern zeichneten Wasserflecke braune abstrakte Kunstwerke. Die Schaufenster selbst waren mit verbogenen Spanplatten zugenagelt. Plötzlich kam mir ein schrecklicher Gedanke, ein Gedanke, den man nicht mehr zurücknehmen kann, wenn er einmal an die Oberfläche des Bewusstseins gekommen ist : Das war kein Ort, an dem man leben wollte. Das hier war ein Ort zum Sterben.
    Sobald der Motor aus war, strömte mir der süßliche Geruch des Todes in die Nase. Ich musste schlucken, als mir in meiner wunden Kehle die Kotze hochkam. Jetzt erst, nach all der verlorenen Zeit, wurde mir klar, wie fürchterlich missverstanden ich sie hatte – sie und ihr Spiel und die Trophäe, der ich nachjagte.
     
    Ich steige aus, und Ben steht neben mir und daneben Radar. Ich weiß sofort, dass das hier nicht witzig ist. Es hat nichts mehr mit Beweis-mir-dass-du-cool-genug-bist zu tun. Ich habe im Ohr, was Margo in der Nacht gesagt hat, als wir durch Orlando fuhren. Ich habe im Ohr, wie sie zu mir sagt : »Ich habe keine Lust, dass mich samstagmorgens ein paar Kinder, von Fliegen umschwärmt, im Jefferson Park finden.« Nicht von ein paar Kindern im Jefferson Park gefunden werden zu wollen ist nicht das Gleiche, wie nicht sterben zu wollen.
    Es gibt keinen Hinweis darauf, dass in letzter Zeit jemand hier gewesen ist, bis auf den Geruch, diesen süßlichen Gestank, an dem man die Toten von den Lebenden unterscheidet. Ich rede mir ein, dass sie nicht so riechen kann, aber natürlich kann sie das. Wir alle. Ich drücke mir den Unterarm gegen die Nase, damit ich den Schweiß auf meiner Haut rieche und alles, was nicht Tod ist.
    »MARGO?«, ruft Radar. Eine Spottdrossel, die auf der rostigen Dachrinne sitzt, spuckt zur Antwort ein paar Silben aus. »MARGO!«, ruft er wieder. Nichts. Er malt mit dem Fuß einen Halbkreis in den Sand und seufzt. »Scheiße.«
    Als ich vor dem Gebäude stehe, lerne ich etwas über Angst. Ich lerne, dass diese Angst nichts zu tun hat mit den müßigen Fantasien von einem, der insgeheim hofft, dass ihm was Wichtiges passiert, selbst wenn das Wichtige schrecklich ist. Diese Angst ist nicht wie der Ekel beim Anblick einer Leiche oder wie die Spannung beim Klicken der Schrotflinte in Beccas Garten. Diese Angst kann man nicht mit Atemübungen bewältigen. Sie hat nichts zu tun mit irgendeiner Art von Angst, die ich bisher kannte. Das hier ist die ursprünglichste aller Empfindungen. Das Gefühl, das schon da war, bevor wir da waren, bevor dieses Gebäude da war, bevor die Erde da war. Das ist die Angst, die die Fische dazu gebracht hat, aus dem Ozean an Land zu klettern und Lungen zu entwickeln, die Angst, die uns laufen gelehrt hat. Die Angst, die uns dazu bringt, unsere Toten zu begraben.
    Der Geruch lässt Panik in mir aufsteigen – Panik, nicht als bliebe mir die Luft weg, sondern als bliebe der gesamten Atmosphäre die Luft weg. Ich glaube, dass alle Ängste, die ich bis dahin in meinem

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