Margos Spuren
mir das Huschen auf den Balken und das Knarren des Gebäudes egal, und eine perverse Euphorie stieg in mir auf. Ich konnte natürlich nicht sicher sein, dass es dieselbe Flasche war, aber es war eindeutig dieselbe Farbe.
Dann drehte ich die Flasche um und entdeckte – unverwechselbar – einen kleinen blauen Fleck auf der Rückseite. Von der blauen Sprühfarbe an ihrem Finger. Sie war hier gewesen. Und zwar nachdem wir uns an jenem Morgen getrennt hatten. Vielleicht war sie immer noch hier. Vielleicht war sie nur unterwegs gewesen, als wir neulich hier waren. Vielleicht hatte sie die Spanplatten zugeklebt, um für sich zu bleiben.
Ich traf einen Entschluss. Ich würde bis zum Morgen bleiben. Wenn Margo hier geschlafen hatte, konnte ich das auch. Und so begann ein kurzes Gespräch mit mir selbst :
Ich : Und die Ratten?
Ich : Ja, aber die bleiben anscheinend oben in der Decke.
Ich : Und die Eidechsen?
Ich : Ach, komm schon. Früher hast du ihnen den Schwanz ausgerissen. Vor Eidechsen hast du keine Angst.
Ich : Aber die Ratten .
Ich : Ratten können dir nichts tun. Sie haben mehr Angst vor dir als du vor ihnen.
Ich : Okay, aber was ist mit den Ratten?
Ich : Ach, halt die Klappe.
Am Ende waren die Ratten unwichtig, denn ich war an einem Ort, an dem Margo lebendig gewesen war. Ich war an einem Ort, wo sie war, nachdem sie bei mir war, und die Wärme dieser Tatsache machte aus der stillgelegten Ladenzeile beinahe einen gemütlichen Ort. Ich meine, ich fühlte mich nicht so geborgen wie ein Baby im Arm seiner Mutter, aber immerhin bekam ich nicht mehr bei jedem Geräusch Atemnot. Und kaum fühlte ich mich wohler, war es auch leichter, das Terrain zu erkunden. Ich wusste, dass ich noch mehr finden würde, und ich fühlte mich bereit dazu.
Ich verließ das Büro und kroch durch das Loch in den Raum mit den Bücherregalen. Eine Weile schritt ich die Gänge ab, ohne zu wissen, wonach ich suchte. Dann stieg ich durch das nächste Loch in den leeren Raum. Ich setzte mich auf die Teppichrolle, die an der Wand lag. Die rissige Wandfarbe knirschte, als ich mich anlehnte. Eine Weile saß ich einfach nur da, sah zu, wie der gezackte Sonnenfleck, der durch ein Loch in der Decke fiel, eine Handbreit über den Boden wanderte, und gewöhnte mich an die Geräusche.
Irgendwann wurde mir langweilig, und ich stieg durch das letzte Loch in den Andenkenladen. Ich ging die T-Shirts durch. Zog eine Schachtel mit Broschüren aus einer der Vitrinen auf der Suche nach einer handschriftlichen Botschaft von Margo, doch ich fand nichts.
Ich kehrte in den Raum zurück, den ich jetzt Bibliothek nannte. Blätterte durch ein paar Reader’s Digests und fand einen Packen National Geographics aus den 1960ern, aber an der dicken Staubschicht auf der Kiste sah ich, dass Margo nicht hier gewesen war.
Erst als ich wieder in den leeren Raum zurückging, begann ich Hinweise darauf zu finden, dass hier ein Mensch gewohnt hatte. An der Wand über der Teppichrolle waren neun Reißzweckenlöcher in der rissigen, abblätternden Farbe. Ich fragte mich, ob Margo lange genug hier gewesen war, um Poster aufzuhängen, auch wenn uns in ihrem Zimmer nicht aufgefallen war, dass welche fehlten.
Als ich den Teppich ausrollte, fand ich noch etwas : einen platt gedrückten leeren Pappkarton, der einmal vierundzwanzig Müsliriegel enthalten hatte. Und plötzlich konnte ich mir vorstellen, wie Margo hier gesessen hatte, auf der Teppichrolle an die Wand gelehnt, und einen Müsliriegel aß. Sie ist ganz allein und hat sonst nichts zu essen dabei. Vielleicht fährt sie einmal am Tag zum Supermarkt, um sich ein Sandwich und eine Dose Mountain Dew zu holen, aber die meiste Zeit verbringt sie hier, auf dem Teppich oder in der Nähe. Doch die Vorstellung schien mir irgendwie zu traurig, um wahr zu sein – sie kam mir so einsam und so unmargohaft vor. Andererseits führten alle Spuren der letzten zehn Tage zur gleichen überraschenden Schlussfolgerung : Margo war – zumindest zeitweise – äußerst unmargohaft.
Ich rollte den Teppich weiter aus und fand eine blaue Kunstfaserdecke, dünn wie eine Zeitung. Ich drückte sie mir ans Gesicht, und ja – da war ihr Geruch. Das Fliedershampoo und der Mandelduft ihrer Körpermilch und darunter die zarte Süße ihrer Haut.
Und wieder konnte ich sie mir vorstellen : wie sie abends den Teppich ein Stück ausrollt, damit ihre Hüfte nicht auf dem rohen Beton liegt, wenn sie sich auf die Seite dreht. Sie
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